: Beautiful Noise Von Mathias Bröckers
Als wir Wolfgang Neuss 1983 als wöchentlichen Kolumnisten für die taz gewannen, waren die Meinungen in der Belegschaft stets gespalten: Ein Teil hielt seine Texte für wirr, unverständlich und völlig verzichtbar, anderen war der Inhalt ziemlich schnuppe, Hauptsache ein Prominenter mehr zierte das Image der Zeitung, ein dritter Teil wiederum war von der Genialität und dem Witz der Neussschen Glossen so begeistert, daß sie das kiffende Ungeheuer von Loch Neuss am liebsten als Chefredakteur und Alleinautor der taz installiert hätten.
Schon allein die Überschriften: „Hat mal jemand 'n Lappen – die Nordsee ist umgekippt“...„Die Wiedervereinigung der Spalt-Tablette“...„Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift“...„Jedes Medium behindert die Massage“...„Im Grunde seines Herzens war Hitler blond“...„Heut' mach' ich mir kein Abendbrot, heut' mach ich mir Gedanken“.
Viele dieser Texte entstanden „live“. Nachdem Neuss beim Frühstück, täglich um 7 Uhr im Café Möhring an der Ecke, seines Amtes als „Frühstücksdiktator“ gewaltet und die Tagespresse auf Globalereignisse und Lokalklatsch abgeklopft und sondiert hatte, diktierte er die Invektiven des Tages („Von 8 bis 9 Uhr regier' ich die Welt – nach Dikat abgefahren“) auf Band. Beim Abtippen, mit diesem großen kleinen Mann im Ohr, verfluchte ich oft, daß die taz eine Zeitung und kein Piratensender war, der diese Vulkanausbrüche direkt über den Äther bringen konnte. Sobald das kleine rote Lämpchen am Diktiergerät aufleuchtete, saß da nicht mehr „das Drogenwrack aus Charlottenburg“, sondern ein High Energy Entertainer, der die Spannung und die Pointen seiner Assoziationen aus dem Nichts zu schöpfen schien. Neuss war der intelligenteste Mensch (und der witzigste Buddha), der mir bisher begegnet ist, doch wie er seine Weisheit erhascht hat, der Schlachtergeselle aus Breslau, weiß ich nicht. Das Hasch allein war's sicher nicht, sonst hätten wir hierzulande schon 5 Millionen Erleuchtete...
„Die haben wir doch mindestens, sie haben's nur noch nicht gemerkt“, würde er jetzt dazwischenkeifen... Was uns hier auf den Punkt bringt: die Stimme, the voice, noise. Tontechnisch perfekt aufgenommen von Karl-Heinz Gerdes und mit kleinen Zwischenmusiken von Max Goldt und von „Stechapfel“ versehen, sind einige dieser taz-Sachen jetzt auf einer CD erschienen („Ich hab' noch einen Kiffer in Berlin“, Conträr Music/Indigo, Jafféstraße 12, 21109 Hamburg). Wir können ihn also endlich wieder hören, unseren „Zwerg Munderwerk“ (FAZ, 1974).
Und auch die Vorgeschichte zu all dem, Neuss' Lebensgeschichte von den 30ern bis zu seinem „Ausstieg“ Anfang der 70er Jahre, ist wieder nachzulesen: nacherzählt (weil ebenfalls auf Band gesprochen) von Gaston Salvatore („Ein faltenreiches Kind“, Europäische Verlagsanstalt). Neuss selbst hat an diesem Buch zwar nie ein gutes Haar gelassen („Ein Salva-Lore- Roman!“), doch es ist so spannend, wichtig und wahr, daß es unbedingt gelesen werden sollte – als zeitgeschichtliches Dokument sowie als exemplarisches Beispiel einer politischen, „anti-faschistischen“ Biographie. Eines Mannes, der kein Beispiel, sondern ein Vorspiel sein wollte.
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