: Auf der Grenze
Tatjana Igumenowa ist Parapsychologin und war im „Kabinett des Vertrauens“ – als Familienberaterin beim russischen Militär ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Tatjana Igumenowa kennt die Grenzen. Die 41jährige Offizieranwärterin und Mutter eines erwachsenen Sohnes hat sie alle erkundet: die Grenzen Rußlands, unserer irdischen Realität, der menschlichen Psyche und ihre eigenen. Seit einem dreiviertel Jahr arbeitet sie als „Instruktorin für die Arbeit mit Familien“ bei den russischen Grenztruppen. Vorher war sie zwanzig Jahre als Familienberaterin bei den sowjetischen und später russischen Streitkräften – im sogenannten „Kabinett des Vertrauens“. Zuletzt, während des Abzugs dieser Truppen aus Deutschland, durfte sie sich schon ganz offiziell „Armee-Parapsychologin“ nennen. Bei diesem Titel weiten sich stolz Tatjanas Augen. Letzten Freitag präsentierte sie in Moskau ihre letzte, vergleichsweise konventionelle Errungenschaft: die „Union der Grenzfrauen“.
Der neue Verband organisiert aktive Söldnerinnen, Offiziersfrauen und Veteraninnen, in 340 Abteilungen und 48 Regionen des Landes. Vorgänger des Verbands waren die Frauenräte bei den russischen Heeren. Sie waren offiziell freiwillig, aber praktisch KPdSU- überwacht, sollten Ungerechtigkeiten verhindern und Nachbarschaftshilfe leisten. Tatjana will eine ähnliche, aber unabhängigere Appellationsinstanz entwickeln. Auch eine eigene Zeitschrift möchte die „Union“ unterhalten. Ganz im Sinne des grenztrüpplerischen Patriotismus soll es darin von allem ein bißchen geben: etwas über die Grenzfrauen in Rußland und etwas über alle möglichen Frauenbewegungen in anderen Ländern, dazu Tips zur Selbsthilfe. Auf die spitze Frage: „Na, und vielleicht auch ein paar Schnittmuster?“ reagiert Tatjana ganz ernst: „Ja, warum nicht – es gibt so manches einsame Häuschen im Wald an der Grenze, bis zu dem es die Hochglanzmodejournale niemals schaffen.“
„Ich legte giftige Arzneimittel bereit“
1971 begleitete sie ihren Mann Michail, Offizier bei der Armee, zu den sowjetischen Truppen ins deutsche Eberswalde. Als Söhnchen Juri aus dem Gröbsten heraus war, absolvierte die junge Mutter ein Psychologiestudium. Insgesamt zwölf Versetzungen führten die Igumenows anschließend an alle Grenzen Rußlands. 1979 befanden sie sich am Grenzfluß Amur, mitten im bewaffneten Konflikt zwischen China und Rußland. „Da gab es einen schrecklichen Moment“, erinnert sich Tatjana. Ihr Mann teilte ihr mit, sie solle sich über 30 Kilometer Fußweg in Sicherheit bringen. „Die ganze Nacht stand der Feuerschein an der Grenze. In dieser Nacht legte ich einige giftige Arzneimittel für mich und mein Kind bereit.“ Trocken schließt sie: „Unsere nächste Etappe begann auf Sachalin – wir wurden bei einer gewaltigen Überschwemmungskatastrophe eingesetzt.“
Mit der Parapsychologie kam Tatjana auf Tschukotka an der Grenze zu Alaska in Kontakt. Eine Wunderheilerin kurierte mit Gemurmel und Massagen eine ihrer Freundinnen von der Unfruchtbarkeit. Der Beweis trat genau neun Monate später ein. „Danach habe ich alles über Parapsychologie gelesen, habe alle Kurse besucht, die angeboten wurden, und bei allen Größen gelernt. Meine Hauptaufgabe sehe ich noch heute darin, Leuten zu helfen, wenn der Arzt keine genaue Diagnose stellen kann.“ Tanja behandelte auch die Familien der russischen Soldaten auf ihrem letzten Posten, nach 1991, in Wünsdorf. Zu ihrer Überraschung fand sie diese in den Augen der Daheimgebliebenen materiell Privilegierten „am Rande der Psychose“ vor. „Sie hatten extreme Ängste, nach Rußland zurückzukehren, nachdem sie sich in Deutschland sozial adaptiert hatten.“ Viele hatten all ihre Energien dareingesteckt, möglichst viele Sachwerte zu horten. Um diese zu retten, brachten sie manchmal ihr Leben in Gefahr. „Alle fürchteten sich zum Beispiel vor den zahlreichen Morden an Offizieren, die ihre in Deutschland gekauften Autos durch Polen heimbringen wollten.“ Ein Auto wurde angesichts der Perspektiven dieser Menschen einfach zum Überlebensvehikel. Sowohl als Instruktorin als auch in ihrer „Union der Grenzfrauen“ organisiert Tatjana die Umschulung ehemaliger Angehöriger der Grenztruppen. Das Pensionsalter in allen russischen Heeresarten liegt bei 45 Jahren und ist oft mit dem Umzug in eine andere Stadt verbunden. Viele würden dann gern einen neuen Beruf ergreifen. Männer und Frauen möchten heute am liebsten JuristInnen, ComputerspezialistInnen oder BuchhalterInnen werden. Was die Frauen anbetrifft, so setzt Tatjana ihre Hoffnung dabei auf ein Netz von Selbsthilfegruppen – auch in der Provinz. Der Grundstein, eine Adressenkartei, wurde von der russischen Frauenbewegung gelegt. Außerdem arbeitet die Union der Grenzfrauen mit dem Moskauer Handwerkerinnenverband zusammen. Ist damit endlich ein Weg eingeschlagen, um den Sprengstoff zu entschärfen, den die destabilisierten und demoralisierten russischen Riesenheere in sich bergen? Dieses Motiv stößt bei Tatjana auf eine Barriere aus dem Jenseits: „Als ich mich mit Parapsychologie beschäftigte, erschrak ich eines Tages darüber, wie sehr unser aller Leben schon vorprogrammiert ist. Natürlich kann ein Mensch einen anderen Weg erzwingen, aber dadurch wird er oder sie weder besser noch glücklicher. Die Einflußnahme ist da sehr begrenzt.“
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