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Ursonate des Pop

„La Paloma“ o-heee! – das meistinterpretierte Stück der Musikgeschichte hat es in einem runden Jahrhundert auf über 2.000 Versionen gebracht. Jetzt kommt die Gesamtedition  ■ Von Thomas Groß

Nur noch een Zahn im Maul, aba ,La Paloma‘ pfeifen“ soll mal ein Berliner Spruch gewesen sein, zu dem auch ein verschärftes bayerisches Pendant in den Annalen verzeichnet wird: „Koan Zahn im Mei, aba ,La Paloma‘ pfeifa“. Wahr ist in jedem Fall: „La Paloma“ ist, noch vor „Yesterday“, „We Are The Champions“ und „Strangers In The Night“, das schichten- und kulturkreisüberschreitend meistinterpretierte Stück der Welt. Über 2.000 Versionen sind allein auf Tonträgern veröffentlicht, darin naturgemäß nicht inbegriffen die zahlreichen vor der Erfindung der Schallplatte liegenden.

Etwas mehr als ein Promill davon, nämlich 26, sind jetzt bei Trikont auf einer CD erschienen, als Pilotprojekt einer Gesamtausgabe aller verfügbaren „La Paloma“- Cover – Versuche zur Historisierung von Pop bleiben also der Renner dieses hinübergehenden Jahres. Im vollen Bewußtsein seiner Unabschließbarkeit (kommen ja immer wieder neue Versionen dazu) versteht das Paloma-Projekt sich als „forschende Hommage“ – „ein Panorama der Verschiedenheit und Gemeinsamkeit der Welt- Populärkulturen“.

Wer die Kompilation ohne diese Vorgabe durchhört, könnte sie natürlich genausogut als ein Stück serieller Kunst verstehen – oder als Ableger des Phänomens der „unglaublich seltsamen Musik“. Track 3 zum Beispiel, die zweitälteste Bearbeitung auf der CD, stammt von dem Hawaiianer Frank Ferara und einem Kompagnon namens Paaluhi; es ist nicht viel mehr über die beiden Artisten bekannt, als daß sie in den Zwanzigern gefragte Sessionmusiker in den USA und Kanada waren, von wo das Stück auf Irrwegen nach Deutschland gelangte, um von der Odeon als „mexikanisches Lied“ herausgebracht zu werden. Bei Track 21 wiederum handelt es sich um die perfekte Krautrockisierung der Vorlage, 1975 auf der „Made In Germany“-LP von Amon Düül2 (Vocals: Renate Knaup- Krötenschwanz) erschienen. Weiter im Programm: eine Dub-Version (1985), eine Jazzversion (1982), Freddy Quinn, Caterina Valente sowie eine sogenannte Verballhornung durch die Straßenmusiker Otto & Bärnelli (etwa 1981).

Den (halb)wissenschaftlichen Charakter des Ganzen stellt der Herausgeber sicher, der Münchner Komponist und Musiker Kalle Laar. Als plaudernder Aufklärer führt er durch die Geschichte des Songs, markiert einige Eckdaten, Wissenswertes über „La Paloma“. Schon eine seltsame Karriere: In der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts von dem vielgereisten Spanier Sebastian de Iradier (womöglich aus mündlichen Quellen) erstmals in Notenschrift fixiert, avanciert das Stück bald nach dessen Ableben zum Hit. Unter der Nummer 6341 soll in Madrid erstmals ein Copyright auf „La Paloma“ niederlegt worden sein. Was Georges Bizet nicht hinderte, ein Seitenstück von Iradiers Songzyklus, „La Habanera“ (Dadadadadadaaa, dadadadadadaaaa... genau das), für seine Oper „Carmen“ zu klauen. Und weiter in diesem Sinne: Kaum haben Emile Berliner und Thomas Alva Edison die Ära der Reproduktion eingeleitet, ist mit als erstes „La Paloma“ auf den Schellackscheiben bzw. Heißwachszylindern (Columbia rec. 15113) zu finden.

Es ist etwas gespenstisch Anpassungsfähiges um dieses Stück Schlager, jedes neue Medium scheint es irgendwie anzuziehen. Als Soundtrack taucht „La Paloma“ in so verschiedenen Filmen wie „Blue Hawaii“ (mit Elvis), „Schtonk“, „Werner, beinhart“, „Der Pate II“ oder „Das Geisterhaus“ auf – ein Zelig unter den Musikstücken, das offenbar kontextunabhängig funktioniert. Als Übungsnummer österreichischer Musikschulen des Fin de siècle (die „spanische“ Synkope!) taugt es genauso wie als volkstümliche Zugabe bürgerlicher Liederabende. Auch politisch ist es nicht zu fixieren. Die als „undeutsche“ Künstler verfolgten Comedian Harmonists hatten es im Programm, aber bekanntlich ebenso Hans Albers, dessen leicht besoffene, fatalistische Variante immerhin die als Schlager getarnten Nazi-Durchhalteparolen („Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“) kurz vor Kriegsende und „Zusammenbruch“ in den Charts ablöste. Mir selbst wird nie die Version eines rollstuhlfahrenden Rentners aus dem Sinn gehen, der zu Beginn der Achtziger in der Freiburger Fußgängerzone einen „La Paloma“ leiernden Kassettenrekorder mit Xylophon und Mundharmonika simultan und irgendwie „free“ begleitete.

Die Tatsache, daß der Song sich immer noch ins Lebensweltliche hinein fortpflanzt, steht denn auch einer abschließenden wissenschaftlichen Sichtweise im Wege. Ob „La Paloma“ mit seiner Südseemotivik (Kuba, Insel, Palmen, „Brown Sugar“) und flagranten Psychodynamik (Taube, Meer, Saufen, Singen, Frau, Tod) wirklich die Ursonate des Pop ist, wie der Herausgeber nahelegt, bleibt vorläufig eine Frage der aufgefahrenen Indizien, der Geschichten. Und der Bilder, die den Song begleiten. Das schönste stammt von Joachim Ringelnatz, der, Greil Marcus („Lipstick Traces On A Cigarette“) vorwegnehmend, sich von „La Paloma“ zu einem Gedicht „An meinen Zigarettenrauch“ inspirieren ließ: „In dem hold gewürzten Augenblick, /Da du aus mir startetest, /Spielte Ziehharmonikamusik /Ein Lieblingslied von mir: La Paloma, /Und auf Schwingen dieser Volksweise / Steigst du auf, /Glückliche Reise! / Aus Nikotin ins ewige Aroma.“

Diverse: „La Paloma. One Song For All World“ (Trikont)

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