Ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg Chiracs ist Frankreich ein tief gespaltenes Land. Massenstreiks und Studentenproteste sind die Antwort auf rabiate Sparpläne der Regierung. Der Premier will den Sturm durchstehen. Aus Paris Dorothea Hahn

Nichts geht mehr. Wann geht Juppé?

„Nein zu der Selektierung“, steht auf dem Transparent der jungen Frau. Anstatt weniger Studenten auszubilden, soll die französische Regierung mehr Geld für alle an die Universitäten schicken.

Zusammen mit mindestens 25.000 anderen Demonstranten zog sie gestern von der Pariser Place d'Italie quer durch den Süden der Stadt. Das Durchschnittsalter lag bei 20 Jahren, dazwischen liefen ergraute Professoren, die schon 1968 auf derselben Route demonstriert haben und heute ihre Studenten unterstützen. Und ganze Kontingente von Gymnasiasten waren dabei, die sich nicht damit abfinden wollen, in wenigen Jahren ihrerseits in die von Geld- und Raumnot geplagten Hochschulen gepfercht zu werden.

Fast nur Leute aus Paris und Umgebung waren an dieser zentralen Demonstration beteiligt. Wegen des Streiks der Eisenbahner und der Pariser öffentlichen Verkehrsbetriebe kamen die Auswärtigen erst gar nicht in die Stadt. Zahlreiche dezentrale Universitätsdemonstrationen fanden gleichzeitig im ganzen Land statt.

Die Ausstrahlung der Bilder aus Lüttich auf allen Fernsehsendern am Vortag hatte offensichtlich niemanden vom Demonstrieren abgehalten. Dort war eine Studentendemonstration zu einer Massenschlägerei mit der Polizei ausgeartet, bei der es Dutzende von Verletzten auf beiden Seiten gab.

Hauptforderungen der französischen Studenten sind Geld, 6.000 zusätzliche Lehrkräfte und die Abschaffung der privaten Eliteuniversitäten, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind. „Die staatlichen Universitäten werden ausgehungert“, erklärt eine Studentin der Universität Nanterre im Osten von Paris, die für 18.000 Studenten gebaut wurde und in der heute 35.000 studieren.

Die Demonstranten verlangen Stipendienerhöhung, eine bessere Sozialversorgung und mehr Wohngeld. Allgemein politische Forderungen sind die Ausnahme, selbst Hinweise auf die Forderungen der anderen Streikenden sind auf dem Boulevard Montparnasse selten. Ein Anwohner allerdings hat ein Transparent ins Fenster gehängt, in dem er Präsident Chirac, der seinen Wahlkampf mit dem Logo eines Apfelbäumchens gestaltet hat, vor dem Hintergrund eines Atompilzes auffordert: „Iß doch Bomben!“

Und auf dem Trottoir schaut eine alte Frau dem Demonstrationszug koopfschüttelnd zu: „Erinnern sie sich noch an den 8. Mai?“ fragt sie, „da haben die doch alle aus Freude über die Wahl Chiracs ein Fest am Place de la Concorde veranstaltet. Die hätten sich früher überlegen sollen, wen sie wählen, die Studenten.“

Morgen will Erziehungsminister François Bayrou einen runden Tisch eröffnen. Die Sprecher der Studentengewerkschaften haben sich noch nicht dazu geäußert. Sie warten auf konkrete Angebote. Zuletzt hatte Bayrou 200 Millionen Franc Finanzhilfe vorgeschlagen und eine „nationale konzertierte Aktion“. Die Studenten wollen zwei Milliarden.

Das Recht auf Bildung, das die Studenten fordern, nimmt inzwischen auch Premier Juppé für sich und seine Bürger in Anspruch. Er habe ein bißchen dazugelernt, was seine Sparpläne bei der Sozialversicherung, im öffentlichen Dienst und an den Unis angeht: „Wenn man den Franzosen die Reformen gut erklärt, werden sie verstehen.“ Und mit den Erklärungen habe es bisher gehapert. Sein Lernprozeß: „Wir werden mit mehr Pädagogik an die Sache rangehen.“

In der Sache selbst will er hart bleiben, offenbar ungerührt von der Entschlossenheit der Streikenden, von den beginnenden Schwierigkeiten der Privatwirtschaft und vom Fall des Franc. Der Reformprozeß sei unumkehrbar, gibt er wieder und wieder zu verstehen. Sein Ziel ist hochgesteckt: Frankreich soll für die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung in drei Jahren fit gemacht werden. Und auch das Prestige des Premiers selbst steht auf dem Spiel: „Juppé kann bei der Sozialversicherung nicht zurück, das ist wie bei Chirac mit den Atomtests“, wird ein hochrangiger Berater zitiert.