: „Wir Serben haben Angst vor Rache“
Die serbische Bevölkerung um Sarajevo protestiert gegen das Dayton-Abkommen und droht mit dem Exodus, wenn sie der Verwaltung der Bosnisch-kroatischen Föderation unterstellt werden sollte ■ Aus Ilidza Erich Rathfelder
Die französischen UNO-Soldaten studieren die Papiere. Im grauen Morgennebel sind die Konturen der Ruinen der Industrieanlagen und der sie umgebenden Einfamilienhäuser nur schemenhaft zu sehen. Das Gebiet um Ilidza, westlich von Sarajevo, war während des Krieges heiß umkämpft, hier versuchten die serbischen Truppen mehrmals, in die Stadt einzudringen. „Ohne UNO- Geleitschutz dürfen Sie nicht in die serbische Zone fahren“, erklärt der Wachhabende am Kontrollpunkt an der Straße von Sarajevo nach Ilidza. „Es gibt jetzt Demonstrationen, es ist für Zivilisten zu gefährlich dort.“
Die Verhandlungen ziehen sich hin. Schließlich gibt das Hauptquartier grünes Licht, „auf eigene Gefahr“. Der Wagen rollt durch das Niemandsland. Endlich taucht der serbische Posten auf. Noch vor kurzem wurden Journalisten hier Kameras und sogar Autos abgenommen. Doch heute sind die serbisch-bosnischen Posten freundlich und hilfsbereit. Ein flüchtiger Blick auf die Pressekarten genügt. Die Fahrt geht weiter nach Ilidza.
Der ehemalige Kurort bietet ein friedliches Bild. Zwar sind auch hier die Häuser an den Frontlinien zerstört. Doch im Stadtzentrum sind die modernen Wohnblocks wie die einstöckigen Häuser der Altstadt intakt geblieben. Es gibt Geschäfte und Kneipen, in denen schon vormittags serbisches oder montenegrinisches Bier fließt. Frauen kaufen ein, Kinder tollen in den Seitenstraßen und den großzügig angelegten Parkanlagen. Der jetzt vielleicht 10.000 Einwohner zählende Ort ist berühmt wegen seines Wassers, dem heilsame Wirkungen zugeschrieben werden. Nur wenige Kilometer von der Quelle der Bosna und dem Berg Igman entfernt gelegen, wurden hier vor dem Krieg Patienten mit allerlei Leiden gesundgepflegt.
Als der Ort am 22. April 1992 endgültig in die Hände der serbischer Milizen fiel, mußten die Nichtserben fliehen, knapp die Hälfte der Bevölkerung. Von hier aus kontrollierte die serbisch-bosnische Armee die wichtigen Straßen von Sarajevo nach Mostar und nach Zentralbosnien. Erbittert wurde zu Beginn des Krieges zudem um den nahe gelegenen Flughafen und den einzig verbliebenen Zugang über den Berg Igman gekämpft. Ilidza war und ist einer der wichtigsten strategischen Punkte im Kampf um Sarajevo.
Nach dem Abkommen von Dayton soll der Ort wie auch andere serbisch kontrollierte Gebiete westlich und nördlich von Sarajevo mit insgesamt rund 40.000 Einwohnern an die Bosnisch-kroatische Föderation fallen. Die serbisch besetzten Stadtteile wie Grbavica werden ebenfalls mit der Stadt wiedervereinigt. Diese serbisch gehaltenen Gebiete sind der Preis für Srebrenica und Žepa, für den Posavina-Korridor und andere Gebiete, die von der muslimischen und kroatischen Seite aufgegeben werden mußten. Der serbische Teilstaat kann dagegen den größten Teil des östlich und südlich gelegenen Umlandes von Sarajevo behalten – so zum Beispiel Pale, Trnovo und Lukavica.
Auf der Hauptstraße stehen Männer in Gruppen und debattieren. Nur wenige Uniformierte sind zu sehen. „Es ist doch Frieden jetzt“, schmunzelt Bogdan D., ein knapp 40jähriger ehemaliger Bankangestellter, der noch vor wenigen Tagen in den Schützengräben stand. Seit dem Waffenstillstand ist auch hier kein Schuß mehr gefallen. Sein Schmunzeln verschwindet jedoch sogleich, als die Sprache auf die Zukunft kommt. Mit sorgenvoller Miene blickt er um sich. „Wir alle haben im Krieg gekämpft. Jetzt sagt Alija Izetbegović, wir seien Kriegsverbrecher, die keinen Platz mehr in der Region Sarajevo haben. Was geschieht mit unseren Familien, wenn wir Männer gehen müssen?“
Auch die anderen umstehenden Männer sind frustriert. Ihre Stimmung schwankt zwischen Wut und Resignation. Lange Zeit hatten sie sich schon als Sieger in dem Krieg gefühlt. Svetozar K., ein 19jähriger Junge, der aus einem der umliegenden Dörfer stammt, hat noch vor wenigen Wochen aus seinem Panzer auf Sarajevo geschossen. Jetzt schimpft er auf den Verräter Slobodan Milošević. Den Kampf weiterzuführen sei jedoch auch sinnlos. „Wir können nicht gegen die ganze Welt kämpfen.“ Seine Zukunft sieht er in düsterem Licht. „Ich habe nichts gelernt, außer zu schießen.“
Die Wut auf die USA und die Nato macht sich in Ausbrüchen Luft. „Wir wurden ebenfalls angegriffen, viele Familien haben Tote zu beklagen, warum wenden sich alle nur gegen uns Serben?“ Selbst die angebotene Malboro-Zigarette wird mit dem Hinweis, sie sei amerikanisch, zurückgewiesen. Und auch der Einwand, französische Natotruppen würden in die Serbengebiete um Sarajevo einziehen, beruhigt die Männer nicht. „Ohne die Parteinahme der Nato hätten wir den Krieg gewonnen.“
Auch bei Zivilisten herrscht Verwirrung und Ratlosigkeit. „Wir haben Angst“, sagt Gordana R., eine ehemalige Ingenieurin, die in Ilidza aufgewachsen ist. „Im Vertrag wird festgelegt, daß lediglich das Gesundheitswesen und die Erziehung noch in die Kompetenz unserer Gemeinde fällt.“ Dagegen würde die Polizei von der Föderation gestellt. „Von den Muslimen.“ Die würden dann in die Häuser gehen, die Männer willkürlich verhaften und Rache nehmen, befüchtet sie. „Vielleicht bleibt uns nur der Exodus.“
Der Vizebürgermeister und Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei in Ilidza, Veliko Veselinović, teilt die Befürchtungen der Bevölkerung. Der bärtige Mittdreißiger, ein enger Mitarbeiter des Serbenführers Karadžić, sieht in dem Vertrag ein Diktat der USA. „Wir wollen nicht mit den Muslimen zusammenleben. Wenn die ihren islamischen Staat aufbauen wollen, bitte. Aber ich will in meinem eigenen Land leben.“ Die multiethnische Gesellschaft ist dem Nationalisten nach wie vor ein Greuel. Doch bei der Lösung konkreter Probleme zeigt er sich konzessionsbereit. Die Normalisierung könne Schritt für Schritt erfolgen, schlägt er vor. Zuerst müsse der Frieden gesichert, die Wirtschaft angekurbelt und dann eine Zusammenarbeit in der Verwaltung vereinbart werden. „Wenn wir unsere eigene Polizei behalten können, garantieren wir die freie Fahrt auf den Zugangsstraßen nach Sarajevo. Wir brauchen aber Sicherheit für uns selbst.“
Aufmerksam registriert er Informationen über einen Marschall- Plan für Bosnien und über die Überlegungen in der bosnischen Regierung, wie die Gelder auch in den serbischen Gebieten verteilt werden können. In allen Institutionen, die in Fragen der Wirtschaft und Verwaltung entscheiden, müßten die Serben angemessen vertreten sein, erklärt er schließlich. „Was wir jetzt vor allem brauchen, ist Zeit.“ Das sind Worte, die auf der anderen, der muslimisch- bosnischen Seite auch zu hören sind. Sobald es um konkrete Probleme geht, scheinen die Positionen zwischen der Regierung in Sarajevo und den Autoritäten vor Ort nicht unüberbrückbar.
Es ist dunkel geworden. Die Kälte hat die Diskutierenden vertrieben. Dagegen sind die Geschäfte voller Kundschaft. Die Preise hier sind unvergleichlich niedriger als in Sarajevo. So kosten Kohl, Karotten und Rote Beete nur wenige Dinare, ein Kilo Fleisch ist schon für umgerechnet fünf Mark zu haben. Seit die Inflation den Wert des Neuen Dinar vermindert, wird die D-Mark wieder akzeptiert, so wie in Sarajevo selbst. „Die D-Mark ist unser einziges Band“, scherzt eine junge Frau, die gerade einige Äpfel ersteht. Mit ihren beiden Kindern versucht sie mit den Überweisungen ihrer Verwandten aus Deutschland – sie leben in Hagen – über die Runden zu kommen. Grundnahrungsmittel erhält sie von den humanitären Hilfsorganisationen. Sie träumt davon, wieder eigenes Geld zu verdienen. „Vor dem Krieg bekam ich als Sekretärin 900 Mark. Jetzt wäre ich schon mit 200 Mark zufrieden.“
Arbeiten, Geld verdienen, das erscheint ihr noch als Zukunftsmusik. Mit ihrem Make-up und der geschmackvollen Kleidung würde sie in eine der zahllosen neueröffneten Kneipen auf der anderen Seite Sarajevos passen. Teilt auch sie den Haß, das Mißtrauen, die Ideologie? „Es gab viele Ideologen, die den Krieg produzierten. Aber während des Krieges ist mit allen Menschen etwas passiert. Die Erfahrungen, die auf allen Seiten schmerzlich sind, werden nicht so leicht zu überbrücken sein.“
Danko Bogdanović ist Polizeioffizier. Der drahtige und kantige Mann sieht sich durch die „Muslimjustiz“ in Gefahr. Denn als ein Mann, der den oberkommandierenden General und mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladić schätzt, muß er fürchten, selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden. Als ehemaliger Rechtsanwalt besteht er auf der Forderung, daß alle Einzelfälle geprüft werden müssen. „Nicht alle Serben sind Kriegsverbrecher. Die gab es auf allen Seiten, es wird nur zum Frieden kommen, wenn es keine Siegerjustiz gibt.“ Auch die Stationierung französischer Natotruppen in der Region Sarajevo sei keine Garantie für eine gerechte Lösung. Auch er überlegt sich, in die serbisch kontrollierte Zone zu gehen. „Wenn die Männer Ilidza verlassen müssen, gehen die Frauen und Kinder mit.“ Sein Kollege von der Polizei, ein offener Parteigänger des Serbenführers Radovan Karadžićs, läßt seinen Gefühlen freien Lauf. Er möchte auf gar keinen Fall „unter muslimischem Joch“ leben. Bei der Rückkehr geht der Schlagbaum fast automatisch hoch. Die serbischen Soldaten wollen nicht einmal die Pressekarten sehen. Sie winken den Wagen freundlich durch. Wenigstens für Journalisten hat sich die Lage in und um Sarajevo normalisiert.
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