: „Ich will wissen, wie Leben funktioniert“
Als Mädchen legte sie am Bahndamm eine Schneckenzucht an, das Abitur verschob sie, um die Geschwister zu versorgen, und von ihren Professoren lernte sie „überhaupt nichts“. Die Biochemie-Professorin Christiane Nüsslein-Volhard bekommt am Sonntag den Nobelpreis für Medizin für ihre Forschungen an der Erbmasse von Fruchtfliegen ■ Aus Stockholm Ulrich Janßen
Nils Ringertz, Zellgenetiker am Karolinska-Institut und Sekretär des Nobelkomitees für Medizin, darf zufrieden sein. Die drei Fliegenforscher, die sich am Donnerstag im gepflegten Hörsaal der Stockholmer Nobel-Foundation der Presse stellen, passen exakt in das Anforderungsprofil für Nobelpreisträger.
Der erste der Laureaten, Edward B. Lewis vom California Institute of Technology, verbreitet die freundliche Würde des Alters. Der zweite, Eric Wieschaus aus Princeton, ist ein Schwärmer, der eigentlich Maler werden wollte, beim ersten Bick auf einen Fliegenembryo aber erkannte: „Damit will ich mich mein restliches Leben beschäftigen.“ Und die dritte, Christiane Nüsslein-Volhard aus Deutschland, bringt nicht nur Europa und die Frauen ins Spiel (nur zwei Prozent der Nobelpreise gingen bisher an Naturwissenschaftlerinnen). Sie repräsentiert auch gute alte Forschertugenden.
Brennend vor Neugier und Erkenntnisdrang, intelligent, optimistisch, voller Vertrauen in ihre Wissenschaft, dabei unabhängig und kein bißchen weltfremd, liefert sie das Gegenprogramm zur Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit der vergangenen Jahrzehnte, aber auch zu den namenlos für Industriepatente rackernden Forschergruppen, die heute das Bild der Wissenschaft prägen. Die Forschung mit Drosophila, Nobel- Sekretär Ringertz betont es, verlangt Geduld, Beobachtungsgabe und viele gute Gedanken, kommt aber mit vergleichsweise wenig Geld aus.
Nüsslein-Volhard betreibt Grundlagenforschung. Zwar ist denkbar, daß die von ihr und Eric Wieschaus identifizierten Gene nicht nur die embryonale Entwicklung steuern, sondern auch das Wachstum menschlicher Krebszellen. Doch wie dieses Wissen einmal praktisch genutzt werden könnte, ist nicht abzusehen. „Ich will wissen, wie Leben funktioniert.“ So einfach beschreibt die 53jährige, die aus Überzeugung nicht für die Industrie arbeitet, ihr Forscherinteresse.
Seit Mittwoch wohnt sie im Stockholmer Grand Hotel gleich gegenüber dem königlichen Palast und absolviert das übliche Programm mit Empfängen, Lesungen, großen Abendessen, kulturellen Veranstaltungen und Interviews. Das Interesse der schwedischen Medien an ihr und ihrer Forschung ist freundlich, aber nicht vergleichbar mit dem Wirbel, der in Deutschland um sie gemacht wurde. Aufregender findet man hier im Norden, was die Chemienobelpreisträger (unter ihnen der in Mainz arbeitende Niederländer Paul Crutzen) herausfanden. Da geht es nämlich um die Bildung und Zerstörung der Ozonschicht.
Nüsslein-Volhard wird von einem ganzen Troß von Verwandten begleitet: zwei Schwestern, ein Bruder, die dazugehörigen Ehepartner und ein Neffe sind mitgeflogen. Ein Ehepartner kam nicht mit. Die einzige Frau in der Nobelpreisträgerriege dieses Jahres ist auch als einzige nicht verheiratet; ihre Ehe ging in die Brüche und blieb kinderlos. Für Frauen, die in der Wissenschaft ganz oben mithalten wollen, ist das nicht ungewöhnlich. „Mit Kindern“, sagt Nüsslein-Volhard, „geht die Karriere einfach langsamer.“
So ersetzen die Geschwister das eigene Familienglück. Fast jeden Monat sehen sich die fünf, kein Weihnachtsfest, das sie nicht gemeinsam in Frankfurt verbringen würden. Frankfurt ist der Kraftquell von Christiane Nüsslein-Volhard. Hier wohnte der Großvater, in dessen Haus die Familie nach dem Krieg einzog, hier wuchs ihr Forscherdrang. Daß die zweitälteste Schwester es einmal zu etwas bringen würde, überraschte die Geschwister nicht. „Christiane war unglaublich neugierig, alles wollte sie wissen“, sagt die jüngere Schwester. Sie las den anderen Märchen und Sagen vor, spielte Querflöte, lernte – natürlich – den „Faust“ auswendig und legte am Bahndamm eine Schneckenzucht an. Die anderen ekelten sich vor den Tieren – Christiane wollte wissen, wie sie funktionieren. „Wenn ich im Wald war, guckte ich immer auf die Erde, ob es etwas zu entdecken gab.“
Gefördert wurde der Wissensdrang hauptsächlich vom Großvater, einem bekannten Internisten und leidenschaftlichen Naturwissenschaftler, aber auch vom Vater, einem Architekten, und der Mutter, einer ausgebildeten Kindergärtnerin. „Sie gab mir die richtigen Bücher.“ Leistung und Erfolg spielten im Haus Volhard angeblich keine Rolle – doch sind sich die Geschwister in diesem Punkt nicht ganz einig.
Christiane stand kurz vor dem Abitur, als der Vater starb. Sie verschob es um ein Jahr und kümmerte sich um die Geschwister. „Sie war es“, meint die Jüngste, „die sich für uns immer verantwortlich fühlte.“ Die Mutter suchte sich Arbeit. Während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses betreute sie die aus Polen angereisten Zeugen und Zeuginnen und brachte die ehemaligen KZ-Häftlinge auch ins Haus. Für die Kinder war das eine wichtige Erfahrung.
1962 startete Christiane Nüsslein-Volhard, mit Ehrgeiz, Bildung und humanistischem Geist reich ausgestattet, ihre naturwissenschaftliche Karriere. In Frankfurt belegte sie gleich alles auf einmal, Biologie, Physik, Chemie und Mathematik, wechselte dann aber nach Tübingen, um Biochemie zu studieren. Das heißt: Eigentlich studierte sie gar nicht, sondern las Bücher. „Von den Professoren“, erinnert sie sich, „habe ich überhaupt nichts gelernt.“ Anspruchsvoll war sie immer schon und außerordentlich selbstbewußt. Als der Doktorvater ihre Arbeit kritisierte, sagte sie nur: „Dem zeig' ich's.“
Die 53jährige läßt sich ungern vereinnahmen. Sie urteilt scharf, hat feste Ansichten und verbreitet diese, frei von taktischen Rücksichten, mit der berühmten „Schnodderschnauze“. Vor allem Männer bekommen dies zu spüren. Wer sie langweilt und aufhält in ihrem Forscherdrang, wer ihr mit Status statt mit wissenschaftlicher Leistung kommt, wer nicht akzeptiert, „daß eine Frau auch einen Willen hat“, der blitzt ab. „Da bin ich auch mal schwierig“, sagt sie.
Schwierig wird sie auch, wenn Journalisten ihr ein schlechtes Gewissen machen wollen wegen der Gentechnik. Die sollen, findet sie, lieber erst mal lernen, worum es dabei überhaupt geht. Angst vor gentechnisch behandelten Tomaten? „Ja, was glauben Sie denn, wieviel DNS sie mit einem einzigen Schnitzel essen, ohne daß Sie die in ihr Erbgut einbauen?“
Gentechnik ist eine Grundvoraussetzung ihrer Wissenschaft. Die Möglichkeit, Gene zu lokalisieren und zu isolieren, verschaffte der bis dahin eher trägen Entwicklungsbiologie in den Siebzigern den bis heute anhaltenden Schub. Nüsslein-Volhard war unter denen, die den Weg dafür frei machten. 1978 begann sie in Heidelberg jene Forschung, für die ihr morgen König Carl Custav im Stockholmer Konzertsaal den Nobelpreis überreichen wird. Gemeinsam mit Eric Wieschaus zerstörte sie mit chemischen Substanzen das Erbgut von Drosophila-Fliegen, erfaßte systematisch, welche Defekte sich dabei in der embryonalen Entwicklung ergeben, und konnte schließlich 15 Gene identifizieren, die für die Segmentbildung im Embryo und die Bildung zweier unterschiedlicher Pole zuständig sind. Später, in Tübingen, identifizierte sie auch noch die vier Steuersubstanzen, die im Embryo entscheiden, wo oben und unten sowie hinten und vorn hinkommen sollen. Mütterliche Gene produzieren diese Substanzen, die von außen ins Ei einströmen und dort eine Art chemisches Koordinatensystem bilden.
Inzwischen hat sie im Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, wo sie seit 1985 als Direktorin alle Freiheiten genießt, ein Aquarium eingerichtet. An Zebrafischen, Wirbeltieren also, will sie die embryonale Entwicklung auf einer höheren Ebene erforschen. Daß sich die ersten Phasen des Lebens in den verschiedenen Organismen ähneln, daß sich bestimmte Kontrollgene in Fliege, Frosch und Mensch fast identisch finden, ist eine der aufregendsten Erkenntnisse der Entwicklungsbiologen in den achtziger Jahren.
„Bringt Ihre Forschung Sie näher zu Gott oder eher weiter weg?“ Mit solchen Fragen muß sich die Nobelpreisträgerin seit Monaten herumschlagen – „weder noch“ ist ihre Antwort. Gern beklagt sie deshalb, welch „unheimlicher Zeitverlust“ mit dem Nobelpreis verbunden sei, und versichert, wie sehr sie sich darauf freue, wieder ins geliebte Tübingen und ihr Labor zurückkehren zu können, wo nur das Flötenspiel, die Gartenarbeit und der selbstgebackene Streuselkuchen gelegentlich die konzentrierte Forschung unterbrechen. „Es gibt schließlich Arbeit zu tun bei uns“, erklärt sie den Journalisten im Karolinska Institut und ergänzt noch, daß die einzige wirkliche Belohnung für wissenschaftliche Arbeit das Glück sei, im Labor etwas Neues entdeckt zu haben.
Morgen allerdings wird sie noch die eine oder andere Frage beantworten müssen. Carl Gustav höchstpersönlich ist beim prunkvollen Bankett ihr Tischnachbar. Der König gilt als naturwissenschaftlich interessiert.
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