Streiklicht: „Mach weiter“
■ 92 Prozent der französischen Lokführer im Ausstand
„Mach weiter“, sagen die Nachbarn zu Philippe, „und tu's auch für uns. Wir können ja nicht streiken.“ Seit 14 Tagen ist der Lokführer im Arbeitskampf. Statt zu seiner Diesellok, kommt er jetzt zu den Streikversammlungen, die täglich in dem Eisenbahndepot im Norden von Paris stattfinden. Anschließend bleibt das Mitglied der autonomen Eisenbahnergewerkschaft zur Streikwache da, damit nachts niemand die großen Loks aus dem Depot herausholen kann. Die Nachbarn in der Vorstadt, die sich mit befristeten Arbeitsverträgen ohne Kündigungsschutz arrangieren müssen, und seine 17jährige Tochter geben Philippe den Mut zum Durchhalten. „Ich will nicht, daß meine Tochter in einer amerikanisierten Gesellschaft leben muß“, sagt er, „wo nur das Geld zählt und die Rentenversicherung Privatsache ist.“
Ob er Weihnachten wieder auf seiner Lok arbeiten wird, weiß Philippe nicht. „Das hängt von Juppé ab“, sagt sein Kollege José. Von einem Rücktritt des Regierungschefs ist keine Rede. Der Premierminister, den die Streikenden abwechselnd als „Faschisten“ und „Technokraten“ – immer jedoch als „herzlos“ – beschreiben, soll seinen Plan zurückziehen.
An einer Wand in dem Pausenraum neben der Lokomotiv- Werkstatt hängt die „Streikkurve“. Täglich zeichnen die Arbeiter die rote Linie ein paar Zentimeter weiter: Sie geht langsam, aber stetig nach oben. 92 Prozent der französischen Lokführer befinden sich im Streik. Bei den täglichen Abstimmungen im Depot hat noch niemand gegen die Fortsetzung des Streiks gestimmt. „In Deutschland ist die Bahn auf drei Gesellschaften aufgeteilt worden“, erklärt José, „in Großbritannien gibt es heute 60 verschiedene Gesellschaften.“ Die Zerstückelung und Privatisierung der Staatsbahn SNCF sei jetzt auch das Ziel der französischen Regierung. „Nebenbei will sie auch noch die Gewerkschaften zerschlagen, wie Thatcher.“
Am späten Abend füllt sich der Pausenraum im Eisenbahndepot. Die Männer haben Ringe unter den Augen. Manche waren schon seit Tagen nicht zu Hause – der Eisenbahnerstreik verhindert die übliche Heimfahrt per Bahn. Vormittags verteilen sie Flugblätter auf den Märkten in der Umgebung ihres Depots. „Fast immer werden wir zum Weitermachen aufgefordert“, sagt Jose. Ein aufmunterndes Fax von den Kollegen vom DGB hängt an der Mitteilungstafel.
Die jüngeren Streikenden haben Kredite abzuzahlen, viele haben Familien mit kleinen Kindern zu Hause. Je länger der Streik dauert, desto teurer wird er für die Beteiligten. José und Philippe verlieren täglich 400 Francs. Streikkassen haben französische Gewerkschaften nicht. Wenn Arbeitskämpfe erfolgreich enden, verhandeln die Gewerkschaften am Ende mit den Arbeitgebern über eine Lohnfortzahlung.
Kurz vor Mitternach ist der Gefrierpunkt erreicht. Philippe macht einen Rundgang zwischen den Loks, die auf den Abstellgleisen geparkt sind. Der Motor einer 3.600-PS-Dieselmaschine heult auf, Dampf steigt in den Nachthimmel. „Das sind Kollegen. Sie laden die Batterien auf“, erklärt Philippe. „Wir sind stolz auf unsere Arbeit. Wir machen doch nicht unsere Maschinen kaputt.“ Dorothea Hahn,Paris
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