: Wegsehen mit Methode
■ Wie die Bremer Bürger die Taten der Gesche Gottfried lange Zeit verdrängten/ Prozeßakten gesichtet
Hannover hat Fritz Haarmann, Bremen Gesche Gottfried. Eine berüchtigte Tochter der Stadt, deren Image nicht so ganz zusammen gehen will mit dem guten Roland und den harmlosen Schweinen in der Sögestrasse. Schließlich ranken sich noch heute Geheimnisse um Leben und Untaten der Frau, die zwischen 1813 und 1827 fünfzehn Personen ihres Hausstandes vergiftete.
So taugt Gesche Gottfried nicht nur zu einer Kultfigur mit unbegrenzter Haltbarkeitsdauer, sondern regt auch heute noch zu Spekulationen über ihre Fall an. Durchaus zu recht. Denn auch wenn mittlerweile vor fast 170 Jahren über die hanseatische Giftmörderin, die neben zwei Ehemännern auch die Kinder und diverse Hausgenossen umbrachte, verhandelt wurde. Bis heute sind nicht alle Unklarheiten ihres Falles geklärt.
„Niemand hat bislang die Akten dieses berühmtesten Bremer Prozesses gelesen“, sagt Peer Meter, der dies nun getan hat. Für seine Untersuchung „Gesche Gottfried. Ein langes Warten auf den Tod.“ konnte er dabei auf besonderes Quellenmaterial zurückgreifen. Die original Prozeßakten aus den Jahren 1827 bis 1831 waren 1943 nach Moskau ausgelagert worden. Erst 1987 kamen sie im Rahmen eines Abkommens über Kulturaustausch ins Staatsarchiv nach Bremen zurück.
Peer Meters Entdeckung nach der Lektüre oder besser Entzifferung von 2000 Seiten alter Handschriften. „Die These, daß niemand etwas von den Vergiftungsfällen gewußt habe, läßt sich einfach nicht aufrechterhalten.“ Die Protokolle der Verhöre machten es ganz deutlich. Schon zwei Jahre vor der Verhaftung von Gesche Gottfried habe es Verdachtsmomente gegen sie gegeben. Da wird Herr Rumpf, ein Hausgenosse von Gesche Gottfried befragt. Und er erinnert sich, daß ein Nachbar ihn ermahnt, die verdächtige weiße Fettmasse, die sich da auf seinem Salatblatt findet, sei Gift - vermutlich Mäusefett, wie die mit Arsen versetzte Butter genannt wird. Doch auch er geht dem Verdacht nicht nach. „Dieses Wegschauen des Bremer Bürgertums hat Methode. So wahrt man in der Hansestadt die Fassade. Nach Jahren der sozialen Unsicherheit gab es 1820 ein verstärktes Bedürfnis nach biedermeierlicher Wohlanständigkeit.“
Das ist ein weitverbreitetes Verhalten. Will schon bei einmaligen Kriminalvergehen niemand etwas mit dem Täter zu tun haben, keiner etwas geahnt haben, so wird diese Distanzierung im Wiederholungsfalle geradezu entlarvend für die Umwelt. Fast immer ließ sich nach der Entdeckung von Massenmördern beobachten, daß es selbstverständlich Hinweise und Verdachtsmomente gegeben hat. Doch je akzeptierter die bürgerliche Fassade der TäterInnen ist, desto länger zögert sich die Entdeckung hinaus. Letztes Beispiel: Die Wiener Krankenschwester, die über Jahre hinweg PatientInnen in ihrer Klinik umbrachte. Ebenso das schützende Image der Gesche Gottfried, die als „Engel“ und Wohltäterin der Armen im Mittelstand lange eine hohes Ansehen hatte.
Peer Meter, der sich auch mit dem Massenmörder Haarmann beschäftigt hat, weiß: „Das Bremer Bürgertum wird durch den Fall Gesche Gottfried demaskiert.“ Eine zentrale Figur in diesem Zusammenhang: der Pflichtverteidiger Friedrich Leopold Voget. Das gehe aus den nun zugänglichen Akten im Staatsarchiv hervor. Kaum wird im Jahre 1831 das Todesurteil gegen die Giftmörderin bestätigt, hat er schon ein Buch parat. Seine Darstellung des Falles genügt nicht nur den noch heute gültigen Marktgesetzen. Kaum ist die Meldung vom Ableben des Stars bekannt, drängen schon die ersten Biographie auf den Markt. Voget habe weitergehende Zwecke verfolgt. „Dieser Mann ist ein absoluter Moralist, der den Fall benutzt. Sein Buch über die Gottfried ist keine Biographie, sondern eine Moralschrift. Die zeige eine aus niederen, gewinnsüchtigen Motiven mordende Gesche Gottfried und ein über die Nachricht ihrer Verhaftung und ihrer Giftmorde gleichsam aus den Wolken fallendes Bremer Bürgertum.
Und mehr noch. Kaum schlüpft Voget aus der Rolle des Verteidigers, verändert sich auch seine Darstellung der Täterin. Dazu sind alle Mittel recht, in der populären Version des Prozesses gäbe er die Akten grob verfälscht wieder. Die Zielrichtung dieser Ungenauigkeiten sei absichtsvoll.
„Die Gesche kommt schlechter weg, als es nach Akteneinsicht nötig wäre“, weiß Peer Meter nach dem Studium von 2000 Seiten Prozeßprotokollen. Das das seltsam schwarz weiße Bild über die Giftmischerin bislang als die einzig gültige Interpretation des zurückliegenden Prozeßes galt liegt, an der faktischen Aktenlage, daß die Protokolle lange nicht zu lesen waren, und an der Bequemlichkeit der langläufigen Meinung.
„Gesche ist in Bremen immer ein Thema, weil das Bild von ihr beunruhigend ist. Einzige Ausnahme: Rainer Werner Fassbinder. Ihm attestiert Peer Meter den richtigen Instinkt bei der Behandlung des Falls: In der „Bremer Freiheit“. Auch ohne Kenntnis der verschollenen Papiere demaskierte Fassbinder die Fassade des Bürgertum. Nur er zeigte Gesche Gottfried schon 1970 so, wie Peer Meter sie auch nach der Lektüre der orginal Akten sieht. Eine „sich aus der Unterdrückung befreienden Frau“, die in einer Männergesellschaft unterzugehen droht. Susanne Raubold
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