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„Sie sind der Boss!“

Im Entscheidungsspiel um den letzten Platz bei der EM 1996 trifft Irland heute auf die Niederlande  ■ Von Ralf Sotscheck

Dublin (taz) – Für einen Nachruf ist es wohl noch zu früh. Falls die Sache heute abend schiefgeht, werde er erst mal „Zwiesprache mit dem irischen Volk halten“, sagte der 60jährige Fußballtrainer Jack Charlton. „Die Sache“ ist das Entscheidungsspiel zwischen seinem irischen Team und den Niederlanden in Liverpool. Nur der Sieger darf an den Europameisterschaften im nächsten Jahr in England teilnehmen.

Charlton wäre zu gerne dabei: In England hat er seinen größten Erfolg errungen, als er mit der englischen Mannschaft 1966 die Weltmeisterschaft gegen die Bundesrepublik gewann. Aber sie haben ihn in seiner Heimat auch gedemütigt. 1970 flog er aus der Nationalmannschaft, weil er in einem Fernsehinterview von einem kleinen Buch erzählte, in dem die Namen von zwei Spielern notiert waren, die ihn geärgert hatten. „Sie werden dafür büßen, bevor ich die Schuhe an den Nagel hänge“, sagte Charlton damals, „wenn sich eine Gelegenheit bietet, daß ich sie mit einem Tritt vier Meter über die Seitenlinie befördern kann, dann werde ich das tun.“ Und als Nationaltrainer wollten sie ihn auch nicht. „Man hat auf mein Bewerbungsschreiben nicht mal geantwortet“, beschwert sich Charlton noch heute.

Allerdings wäre der Job nichts für ihn gewesen: Im Vertrag für englische Nationaltrainer ist stets eine Leibwache sowie ein Fluchtwagen vorgesehen. Da hat er es in Irland weitaus gemütlicher. Charlton hatte den Vertrag vor allem deshalb unterzeichnet, weil die grüne Insel als Anglerparadies bekannt ist. So legte er sich ein kleines Haus an der irischen Westküste zu, wo er in jeder freien Minute Jagd auf die nassen Tiere macht.

Die fußballerische Geschichte Irlands beginnt mit Charltons Amtsantritt im Februar 1986. Was davor war – darüber wollen die Iren am liebsten den gnädigen Mantel des Vergessens breiten. Ein Jahr vor der Ära Charlton hätte der Fußballverband beinahe Konkurs anmelden müssen. Die Nationalmannschaft eilte von einem Mißerfolg zum anderen und konnte nur noch die treuesten Fans ins Stadion locken. Fußball stand im Schatten der traditionellen irischen Sportarten „Hurling“ und „Gaelic Football“ und wurde von vielen als „unirisch und barbarisch“ bezeichnet. Das größte irische Stadion, der Dubliner Croke Park, bleibt deshalb bis heute den traditionellen Sportarten vorbehalten, Fußballspiele dürfen dort nicht ausgetragen werden.

Auch Charlton wurde zunächst mit Plakaten empfangen, die ihn zurück nach England verwünschten, doch nach den ersten ungewohnten Siegen der Fußballer schlug die Stimmung um. Grund der ungewohnten Erfolge: „Die Giraffe“, wie der Bergarbeitersohn aus anatomischen Gründen genannt wird, hatte zuvor Ahnenforschung betrieben. Sämtliche Spieler der irischen Nationalmannschaft verdienen ihr Geld in der englischen und schottischen Liga, die meisten sind in Großbritannien geboren. Wenn Charlton bei seiner Suche nach guten Fußballern auf eine irische Großmutter stieß, wurde der Spieler kurzerhand mit einem irischen Paß ausgestattet und durfte fortan für die „Boys in Green“ spielen. So naturalisierte sich Charlton ein schlagkräftiges Team herbei. Nur Jorge Brown, der im Weltmeisterschaftsfinale 1986 ein Tor für Argentinien erzielte, ist ihm durch die Lappen gegangen.

Endgültig eroberte sich Charlton die Herzen der irischen Fans mit dem Sieg über England, der seine englische Abstammung allemal aufwog. Es gibt zwei Tage, an die sich jeder Ire und jede Irin genau erinnert: der Tag, an dem John F. Kennedy ermordet wurde und der 12. Juni 1988. An jenem Tag besiegte das irische Team im Stuttgarter Neckarstadion den hohen Favoriten und „Erzfeind“ England mit 1:0.

Die erste große Überraschung der Europameisterschaften in der Bundesrepublik war perfekt. Nach dem Abpfiff stieg der durchschnittliche Alkoholspiegel in Irland um mehrere Promille, die gesamte Nation war zu Anhängern der „Boys in Green“ geworden. Daß man später – ausgerechnet gegen die Niederlande und äußerst unglücklich durch ein Abseitstor von Wim Kieft in der 83. Minute – ausschied, tat der Freude keinen Abbruch. Souverän wurde die Qualifikation für die WM 1990 in Italien geschafft, wo es im Viertelfinale ein 0:1 gegen die Gastgeber gab, und auch 1994 in den USA war Irland dabei. Endstation im Achtelfinale: die Niederlande.

Sollte sich so etwas heute wiederholen, wird Charlton wohl seinen Hut nehmen. Die Presse hat sich bereits auf ihn eingeschossen. Man wirft ihm vor, daß er manchmal mitten in der Vorbereitungsphase für ein wichtiges Spiel angeln geht, daß er sich die Vornamen seiner Spieler nicht merken kann, daß er den Nachwuchs ignoriert und daß er taktische Fehler macht. Die Animositäten hat sich Charlton selbst zuzuschreiben, denn er hat die Leute verwöhnt. War man früher heilfroh, wenn das Team keine allzu große Schande über die Insel brachte, so sind die Erwartungen heutzutage höher gesteckt.

Herzlich war sein Verhältnis zur Presse allerdings nie. Charlton, der Ehrenbürger Dublins, hat die Grantigkeit zur Kunstform erhoben. Bei Pressekonferenzen schnorrt er regelmäßig eine Zigarette, und die Presseleute wissen, daß das Gespräch beendet ist, wenn er die Kippe ausgedrückt hat. Bei den Fans hat er aber nach wie vor einen Stein im Brett, für sie ist er der Größte. Selbst der Papst hatte da keine Zweifel: „Ja, ich weiß, wer Sie sind“, sagte der Pontifex bei einer Audienz während der Weltmeisterschaft 1990, „Sie sind der Boss.“

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