Wir lassen lesen: Von der A-Note bis zum Zwölfkampf
■ Neue Druckwerke zu hundert Jahren olympischer Geschichte der Neuzeit
„In Detroit baute Ford schon 78.000 Autos“, berichtet Karl Adolf Scherer zur Einleitung seines Kapitels über die Olympischen Spiele 1904 in St. Louis. Eines dieser Fahrzeuge machte sich ein gewisser Fred Lorz aus New York in abgefeimter Weise zunutze. Bei Kilometer 19 des Marathonlaufes fand er es an der Zeit, seine Füße ein wenig zu schonen, stieg in ein Automobil, ließ sich 10 Kilometer vor dem Ziel wieder absetzen, reihte sich an zweiter Stelle ein und gewann souverän. Anschließend posierte er mit Alice Roosevelt, der Tochter des damaligen US-Präsidenten Theodore, für die Fotografen, während der wahre Sieger Thomas Hicks einsam in der Gegend herumstand.
Am Ende flog der Schwindel aber doch auf, und Lorz wurde lebenslänglich gesperrt, was in jenen Zeiten allerdings nicht unbedingt viel hieß. Bereits ein halbes Jahr später gewann er den Boston Marathon, diesmal möglicherweise tatsächlich zu Fuß.
Das moderne Olympia war gerade mal acht Jahre alt und schien schon fast wieder am Ende, allerdings nicht wegen des motorisierten Fred Lorz. Sowohl die Veranstalter in Paris 1900 als auch die von St. Louis hatten sich als komplett unfähig erwiesen; das Interesse an den Spielen war gering, nach Missouri reiste nicht mal Pierre de Coubertin an. Vor allem den Bemühungen des französischen Barons war es geschuldet, daß am 23. Juni 1894 in Paris das Internationale Olympische Komitee (IOC), allerdings noch nicht unter diesem Namen, gegründet wurde und sogleich beschloß, die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit für 1896 nach Athen zu vergeben. 1.511 Jahre, nachdem sich der armenische Boxer Varazdetes als letzter Athlet der Antike mit olympischem Lorbeer bekränzen durfte, gewann der Amerikaner James Brendan Connolly den Dreisprung (13,71 m) und durfte als erster statt schnöden Lorbeers eine Goldmedaille mit nach Hause nehmen, was vermutlich auch Varazdetes nicht übel gefallen hätte.
Am 13. Dezember 1895 betrat der deutsche Sport die olympische Bühne. Im Berliner Hotel „Zu den vier Jahreszeiten“ wurde das „Komitee für die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen“ gegründet. Folgerichtig feiert das Nationale Olympische Komitee (NOK) heute das hundertjährige Jubiläum der olympischen Bewegung in Deutschland. Richtig los geht es weltweit jedoch im nächsten Jahr, wenn die Spiele von Atlanta das olympische Jahrhundert komplettieren.
Aus diesem Anlaß kommen diverse Bücher auf den Markt, die sich dem Phänomen Olympia widmen. Das inhaltsreichste ist ohne Zweifel der monumentale Wälzer des oben angesprochenen Karl Adolf Scherer. Der Autor ist, wie sich in und zwischen den Zeilen leicht herauslesen läßt, ein glühender Bewunderer des IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch, der „das Primat der Politik durch jenes des Geschäfts“ ersetzte. Olympia heute ist für Scherer eine „faszinierende Weltbewegung“, die er auf 827 Seiten in all ihren Facetten erfaßt, wobei allerdings, da die olympische Geschichte auch eine Geschichte der Zahlen ist, fast die Hälfte des Platzes für die Statistik draufgeht.
„Idee, Analyse und Bilanz“ heißt der Untertitel von Scherers Fleißarbeit, und er liefert, übersichtlich aufgemacht und mit 500 Fotos garniert, nicht nur sportliche Ereignisse, Anekdoten, Skandale, sondern auch eine ausführliche Geschichte der „Olympischen Familie“. Die deutsch-deutschen Querelen des Kalten Krieges sind dabei ebenso vertreten wie die hundert Jahre alten Streitigkeiten um den Amateurstatus oder die Boykott-Turbulenzen der 70er und 80er Jahre.
Eine Geschichte in Fotografien stellt der Band des Chronik- Verlages dar, wobei die wachsende Zahl der olympischen Wettbewerbe eine wachsende Zahl der Bilder bedingt. Genügen bis zu den Spielen von Melbourne noch zwei Fotoseiten für jede Ausgabe der Sommerspiele, bedarf es für Barcelona 1992 deren acht. Rund 850, teilweise selten gesehene Abbildungen sind es insgesamt, es tauchen so berühmte Figuren auf wie die „göttliche“ Suzanne Lenglen, die 1920 in Antwerpen zwei Tennisgoldmedaillen gewann, der völlig erschöpfte Marathonläufer Dorando Pietri, dem 1908 in London unter anderen Sir Arthur Conan Doyle über die Ziellinie half, was zur Qualifikation des Italieners führte, und der Indianer Jim Thorpe, dem die Zehnkampfmedaille von Stockholm 1912 weggenommen wurde, weil er mal für Geld Baseball gespielt hatte. Es fehlt leider, im Gegensatz zu Scherers Buch, die „Zwischenolympiade“ 1906 in Athen, die zwar in der offiziellen Zählung der Spiele nicht auftaucht, aber mit ihrem großen Erfolg die nach Paris und St. Louis darniederliegende Bewegung rettete.
Für Leute, die schnell und ohne Umschweife Zahlen und Fakten sehen wollen, gibt es „Das große Buch der Olympischen Spiele“ vom Copress- Verlag, ein Lexikon mit vorwiegend knappen Informationen zu einzelnen Stichworten von „A- Note“ bis „Zwölfkampf“, aber auch einigen längeren Beiträgen über Figuren wie Armin Hary, Ben Johnson, Kilius/ Bäumler oder Sebastian Coe. Das Schwergewicht in diesem Buch liegt in Bebilderung wie Textteil eher auf der jüngeren Geschichte der Olympischen Spiele. Der findige Fred Lorz jedenfalls wird nicht erwähnt. Matti Lieske
„Die Chronik: 100 Jahre Olympische Spiele“. Chronik Verlag 1995, 312 Seiten, 850 Abbildungen, 49,90 DM
Christian Zentner: „Das große Buch der Olympischen Spiele“. Copress Verlag, München 1995, 320 Seiten, 422 Abbildungen, 78 DM
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