piwik no script img

Gesellschaft mit postsozialistischem Schmerz

■ Staatspräsident Ulmanis über Lettlands Zukunft und den Nationalisten Joachim Siegerist

Guntis Ulmanis (56) ist der erste lettische Staatspräsident, der Deutschland nach 1918 besucht. Auf dem Programm seines viertägigen Aufenthaltes stehen unter anderem Gespräche mit Bundespräsident Roman Herzog, Bundeskanzler Helmut Kohl, Vertretern von Industrie- und Handelskammer und der Firma Siemens. Lettland hat als erster baltischer Staat vor einigen Wochen den Antrag auf eine Vollmitgliedschaft im Europäischen Parlament gestellt und will der EU beitreten.

Ulmanis wurde 1941 von den Sowjets mit seinen Eltern nach Sibirien verbannt. 1946 kehrte er nach Riga zurück. Von 1971 bis 1992 war er Manager in der dortigen Kommunalverwaltung. 1993 trat er als Abgeordneter der Bauernunion in das lettische Parlament ein. Seit Sommer 1993 ist er Staatspräsident. Im Juni 1996 will er sich erneut zur Wahl stellen

* * *

taz :Herr Präsident, Sie wollen in die Europäische Union eintreten, schaffen es aber nicht, in Lettland eine Regierung zu bilden.

Guntis Ulmanis: (lacht). Ich möchte mal ihre Spitze überhören. Die Parlamentswahlen haben wie geplant stattgefunden, und das gewählte Parlament ist schon zweimal zusammengetroffen, um über eine Regierung abzustimmen. Wir sind eben ein postsozialistisches Land – wie mal Ostdeutschland –, und auch bei uns ist wie bei Ihnen die Gesellschaft sehr gespalten. Aber ich sage Ihnen, daß wir solange nach einer passenden Regierungszusammensetzung suchen werden, bis sie unseren Reformbestrebungen und den von uns gesetzten Aufgaben entspricht.

Sie denken also nicht an Neuwahlen, sondern werden nach bereits zweimal gescheiterten Anläufen demnächst einer dritten Person den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen.

Wir wollen auf keinen Fall Neuwahlen, sondern sind dabei, die jetzigen Blöcke im Parlament aufzubrechen. Ich bin guten Mutes.

Im Block der „Nationalen Erneuerung“ ist der deutsch-lettische Populist Siegerist stark. Wie erklären Sie sich seinen Erfolg?

Da muß ich lange nachdenken. Wer bitte ist Siegerist?

Das ist der, der 15 Mandate im Parlament hat, Wirtschaftsminister werden möchte und Ihre Politik als „Verbrechen ohnegleichen“ bezeichnet hat.

Ach so. Wissen Sie, sein Erfolg ist nur zu erklären mit den Schmerzen, die eine postsozialistische Gesellschaft erdulden muß. Ein Teil der Bevölkerung erlebt im Moment sehr bitter die Wandlung der Zeiten, viele leiden sehr an den katastrophalen Folgen der jahrzehntelangen sowjetischen Okkupation. Sie haben große Sorgen, und kommen mit der Umbruchzeit nicht zurecht. Und Siegerist ist jemand, der diese Sorgen benutzt, um ihnen leichte Antworten anzubieteten.

Sie möchten westliche Investoren ins Land holen. Denken Sie an die Verabschiedung eines Privatisierungsgesetzes, daß ausländischen Investoren erlaubt, Grund und Boden zu kaufen?

Lettland befindet sich heute in einer historischen Situation. Es hat die einzigartige Möglichkeit, seine Entwicklung so zu gestalten, daß sie gleich der Ordnung von morgen entspricht. Wenn wir also in Folge unserer Entwicklungsprozesses spüren sollten, das irgend etwas nicht stimmt, dann sind wir bereit, auch vieles zu ändern. Alles ist möglich, wir sind ein dynamischer Staat.

In Ihrem Vortrag in der Europäischen Akademie, „Lettland auf dem Weg nach Europa“, betonten Sie die wichtige kulturelle Rolle, die Deutsche in der Zeit der Aufklärung in Ihrem Land gespielt haben. Über die Zeit des Nationalsozialismus haben sie kein Wort gesprochen. Warum haben Sie solche Schwierigkeiten, sich auch mit dem lettischen Anteil an der Ermordung der Juden zu beschäftigen?

Das Schicksal der Juden in der Vergangenheit in vielen Staaten, auch in Lettland, ist eine der größten Tragödien der ganzen Menschheit. Lettland wird niemals Ausbrüche von Antisemitismus zulassen, und dafür bürge ich auch persönlich. Und ein Nationalismus in dem Sinne, wie es der Nationalsozialismus war, und selbst ähnliche Bewegungen, werden wir nicht dulden. Dafür gibt es keinen Platz in unserer Gesellschaft.

Das habe ich nicht gemeint. In Lettland wird weder über den Holocaust noch über die lettische Kollaboration berichtet. Wo sind die Schulbücher, an welcher Universität kann man etwas darüber erfahren?

Ich gebe Ihnen recht. Diesem Punkt nähern wir uns noch sehr unzulänglich.

Interview: Anita Kugler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen