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Großmutter zweiter Klasse

Es liegt an den „egoistischen Genen“, wenn die Oma ihre Enkel vernachlässigt  ■ Von Sabine Riewenherm

„Liebe Omi, ich brauche dringend einen neuen Futon, doch Futons sind teuer. Ich würde mich freuen, wenn Du mir einen zu Weihnachten schenkst...“ Statt dessen fand ich nur eine Postkarte auf dem Gabentisch: „Liebe Sabine, ich bin nicht sicher, ob Du Gene von mir hast. Großmütterliche Fürsorge bedeutet schließlich auch, die eigenen Gene zu fördern. Einen Futon gibt es nicht.“

Dem Egoismus ihrer Enkelkinder auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu entgehen war schon immer Ziel meiner Großmutter – väterlicherseits. Verantwortlich für die neuesten Ausflüchte sind der Psychologe Harald Euler und die Anthropologin Barbara Weitzel von der Gesamthochschule Kassel. Sie suchen die Erklärung für unterschiedliches Fürsorgeverhalten der Großeltern in den Genen. Um zu beweisen, daß sich Großeltern in „typisch unterschiedlicher“ Weise um ihre Enkel kümmern, werteten die beiden WissenschaftlerInnen rund sechshundert Fragebögen aus, die sie an StudentInnen verteilt hatten. Das Ergebnis: Am liebevollsten sorgt sich die Großmutter mütterlicherseits um ihre Enkelkinder, dicht gefolgt von ihrem Gatten. Zweitklassig verhalten sich dagegen die Großeltern väterlicherseits: Hier rangiert Omi nur auf Platz drei, während der Vater des Vaters den letzten Platz in der Fürsorglichkeits-Skala einnimmt. Mein Mißtrauen gegenüber Statistiken wischt meine Großmutter väterlicherseits – neuerdings will sie nur noch GMV genannt werden – gekonnt beiseite. Die Zahlen seien sowieso nicht so wichtig, sollen sie doch nur die Euler-Weitzelsche Theorie – und die Ausrede meiner GMV – statistisch bekräftigen. Nach einem kurzen, aber heftigen Schlagabtausch – meine feministische Logik gegen die Gene meiner GMV – muß ich kapitulieren. Nicht etwa patriarchale Gesellschaftsstrukturen sorgen dafür, daß sich die Mutter – und damit auch die Eltern der Mutter – mehr um die lieben Kleinen kümmern, sondern das „Reproduktionsverhalten“ und die individuelle „Elternschaftsgewißheit“.

Mit diesen Begriffen, dem soziobiologischen Vokabular entnommen, begründen Euler und Weitzel ihre Theorie. Die Soziobiologie war bis Mitte der siebziger Jahre nur ein begrenzter Bereich der Biologie, der sich mit dem sozialen Verhalten bei Tieren beschäftigte. 1975 forderte der Insektenforscher Edward O. Wilson, daß auch das menschliche Verhalten einbezogen werden müßte. Und die Antriebsfeder für Verhaltensweisen im allgemeinen und bei Menschen im besonderen sei der Fortpflanzungswille. In soziobiologischem Zusammenhang bedeutet „Elternschaftsgewißheit“, daß die Mutterschaft immer gewiß ist, während die Vaterschaft – pater semper incertus – ungewiß sein kann. Um den Nachwuchs kümmert sich aber nur, wer sicher sein kann, daß Mann oder Frau „etwas“ mit dem Kind gemeinsam hat. Und was ist dieses „Etwas“? Der Biologe Richard Dawkins fand ein Jahr nach Wilson eine Antwort auf diese Frage. Er stellte die gewagte anthropomorphe Phrase der selfish genes, der „egoistischen Gene“ auf. Triebkraft unseres Fortpflanzungsverhaltens seien nicht individuelle oder gruppenspezifische Interessen, sondern die Gene. Schließlich würden die Informationen, die in den Genen stecken, länger überleben als die Individuen, die folglich nur den Zwischenwirt spielen.

Dawkins' Theorie ist bis heute unter BiologInnen heftig umstritten und wird mehr als Glaubens- denn als Wissenschaftsfrage gehandelt. Schon lange ist klar, daß den Genen weder Willen noch Absicht unterstellt werden kann und der Begriff der „egoistischen Gene“ nur metaphorisch gemeint ist. Gestritten wird auch nicht so sehr darüber, ob die Biologie grundsätzlich unser Verhalten beeinflußt. Die Frage ist vielmehr, ob sie als Erklärung für soziale Phänomene relevant ist und wie weit sich die Waagschale in Richtung Biologie senkt. Dabei gehen nicht nur die Medien, die sich über Fremdgehn-Gene oder Homo-Gene freuen, sondern auch einige WissenschaftlerInnen zu weit. Sie propagieren, daß Gene bestimmte Verhaltensweisen nicht nur beeinflussen, sondern gar festlegen.

Auch Euler und Weitzel glauben, daß die egoistischen Gene das Verhalten meiner Omi beeinflussen: Die Großmütter wissen genau, daß ihre eigenen Kinder fünfzig Prozent der Gene von ihnen haben. Bei ihren Enkeln sind sie nicht mehr sicher. Die Kinder der Tochter haben gewiß immerhin noch ein Viertel großmütterliche Gene. Doch wie steht es mit den Kindern ihrer Söhne? Woher soll meine GMV wissen, ob ihre Schwiegertochter – meine Mutter also – nicht ihren Sohn – meinen Vater, vielleicht – betrogen hat? Und damit ihr Enkelkind womöglich keines ihrer großmütterlichen Gene trägt? Noch größere Zweifel haben die Großväter. Niemals – vorausgesetzt, sie nehmen keine molekulargenetischen Analysen in Anspruch – können sie sich ganz sicher sein, ob ihre Kinder von ihnen sind oder ihre Enkelkinder großväterliche Gene haben.

Ins evolutionstheoretische Aus geschossen wurde nur Großvater mütterlicherseits. Sein Verhalten ist schier unerklärlich. Sowohl seine Vaterschaft als auch seine Großvaterschaft ist ungewiß. Eigentlich müßte er sich mit dem Loser der Statistik – dem Großvater väterlicherseits – zusammentun. Oder sich wenigstens mit der Omi zweiter Klasse anfreunden. Doch das tut er nicht, nein, er rangiert sogar an zweiter Stelle der großelterlichen Fürsorglichkeit. Aus irgendeinem Grund ist Euler und Weitzel dieser Querulant in der Statistik nicht weiter aufgefallen. Der Verdacht liegt nahe, daß er sich im Schlepptau der Großmutter mütterlicherseits den zweiten Platz erschlichen hat. Diese Hypothese wird noch bestätigt durch die Feststellung von Euler und Weitzel, daß getrennt lebende Großväter mütterlicherseits „nur noch unterdurchschnittliche Fürsorgewerte“ erreichen. Bei getrennt lebenden Großvätern väterlicherseits erlahmt ihrer Statistik zufolge die Fürsorge fast völlig. Gemäß der soziobiologischen Doktrin des Fortpflanzungszwangs unterstellen die AutorInnen den abtrünnigen Großvätern: „Diese Männer haben vielleicht andere Reproduktionsmöglichkeiten gefunden.“

Nun, meine GMV hat inzwischen zwar keine anderen Reproduktionsmöglichkeiten aufgetan, dafür aber ihre Fürsorgereserven sinnvoll umgesetzt. Anstatt das Geld in den Futon ihrer Enkelin zu stecken, kaufte sie ihrer besten Freundin ein Hörgerät. Mit der hat sie zwar keine Gene, aber immerhin das abendliche Vergnügen vor dem Fernseher gemeinsam. Ich werde mich hüten, meine pfiffige Omi auf ihre unkonsequenten egoistischen Gene hinzuweisen.

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