: Englands Schulen haben „beef“ vom Speiseplan gestrichen, Ärzte warnen vor dem Verzehr. 160.000 Rinder sind bereits an BSE verendet, jede Woche kommen dreihundert dazu. London spielt die Übertragbarkeit auf den Menschen weiterhin herunter. Von Ralf Sotscheck
Gefahr für den Menschen? Gegessen!
Er habe gleich gemerkt, daß mit der Kuh was nicht stimmte. „Sie war nervös und aggressiv“, sagt Geoffrey Nicholls, ein Biobauer aus der Nähe von Liverpool, „die typischen ersten Anzeichen für Rinderwahnsinn.“ Er rief den staatlichen Tierarzt. „Ich sagte ihm, daß die Kuh die Krankheit habe“, sagt Nicholls. „Er antwortete, ich solle das Tier ruhig zur Schlachtung verkaufen.“ Nicholls behielt die Kuh. Nach drei Monaten verschlechterte sich ihr Zustand doch rapide. Ein Veterinär ließ die Kuh töten, die Obduktion bestätigte Geoffrey Nicholls' Vermutung.
An der „bovinen spongiformen Enzephalopathie“ (BSE) sind bisher knapp 160.000 Rinder in Großbritannien gestorben. Jede Woche kommen 300 Tiere hinzu. Bei Nicholls sind bisher fünf Rinder, die er auf Viehmärkten gekauft hatte, an BSE gestorben. Die Krankheit hat längst die Artenbarriere übersprungen: In Laborversuchen konnte der Erreger mühelos auf die meisten Säugetierarten übertragen werden. Und auf Menschen? Genau weiß man das erst in fünf bis zehn Jahren, denn die Inkubationszeit ist lang. Fest steht, daß Fleisch von infizierten Rindern in Großbritannien in die menschliche Nahrungskette gerät.
Nicholls' Erfahrungen sind nämlich kein Einzelfall. In einem geheimen Bericht, den Wissenschaftler für die Regierung in London angefertigt haben, heißt es, daß zwei von drei Tieren durch das Kontrollsystem schlüpfen. Kein Wunder, ist es doch sehr oberflächlich: Lediglich diejenigen Rinder, die auf der Weide herumtorkeln und eindeutige Symptome zeigen, werden herausgefiltert. Auf den Viehmärkten und im Schlachthof sitzt ein staatlicher Tierarzt und wirft einen kurzen Blick auf die Tiere. Im Frühstadium läßt sich die Krankheit dadurch freilich nicht erkennen. Das könnte nur ein wissenschaftlicher Test leisten.
Es gibt diesen Test. Der Mikrobiologe Harash Narang aus Newcastle hat bereits vor drei Jahren den Erreger identifiziert. „Er ist von einer komplexen dreiteiligen Struktur“, sagt Narang. „Wenn der Erreger in die Zelle eintritt, muß er sich reproduzieren. Dazu benutzt er das wirtseigene Protein, das eigentlich die Zellwand intakt hält.“ Dadurch wird die Zelle regelrecht ausgehungert und platzt.
Dr. Narang hat mit seinem Post- mortem-Schnelltest festgestellt, daß ein Viertel aller britischen Rinder infiziert ist. Jetzt ist es ihm gelungen, den Erreger im Urin nachzuweisen – bei einer Frau, die am BSE-verwandten Creutzfeld- Jakob-Syndrom (CJS) erkrankt war. Beide Tests funktionieren nach demselben Prinzip: Narang hat den Erreger durch ein bestimmtes Verfahren eingefärbt und unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht. Es sei ein und derselbe Erreger, der CJS, BSE und Scrapie bei Schafen auslöse, sagt Narang. Von den Schafen ist die Krankheit in den achtziger Jahren auf die Rinder übergesprungen, weil man die Wiederkäuer zu Fleischfressern gemacht und sie mit ungenügend behandelten Schafabfällen gefüttert hat.
Mit Hilfe von Narangs einfachem Test könnte jedes Tier im Handumdrehen untersucht werden, bevor es geschlachtet wird. Die britische Regierung will davon jedoch nichts wissen. Als Narang mit seinem Post-mortem-Test ankam, entließ ihn das staatliche Gesundheitsamt kurzerhand. Seitdem wird ihm jede Kooperation verweigert: Er darf kein staatliches Labor betreten, erhält keine Gewebeproben infizierter Rinder und muß eine Lizenz vorweisen, wenn er mit dem Rinderurin, das ihm der Biobauer Geoffrey Lane zur Verfügung stellen würde, experimentieren will. Wo er die Lizenz beantragen soll, wisse man nicht, beschied ihm das Ministerium. Darüber hinaus haben Unbekannte an den Bremsen seines Autos herumgefummelt und zweimal in seine Wohnung eingebrochen, wobei ein Teil der Unterlagen verschwand.
Narang konnte nur weiterforschen, weil er vom Fleischexporteur Ken Bell aus Newcastle finanziell unterstützt wird. „Es gibt ungefähr viereinhalb Millionen Rinder in diesem Land“, sagt Bell. „Wenn ein Viertel davon infiziert ist, wie die Tests ergeben haben, dann kostet das die Regierung eine Milliarde Pfund an Schadenersatz. Ich will jedenfalls kein Fleisch verkaufen, bei dem ich beten muß, daß es in Ordnung ist.“ Die VerbraucherInnen wollen das auch nicht. Seit zwei Wochen ist das Thema Rinderwahnsinn wieder in den britischen Schlagzeilen, nachdem der pensionierte tierärztliche Berater der Regierung, Professor Bernard Tomlinson, der BBC erklärt hat, er schließe eine Übertragung auf den Menschen nicht mehr länger aus. Eine Reihe unabhängiger WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen hauen in dieselbe Kerbe. Beunruhigende Indizien: Die zunehmend jüngeren CJS-Opfer haben eins gemein, entweder Kontakt zu Rindern oder sie aßen gerne Rindfleischprodukte.
Die britische Regierung bestreitet kategorisch jede Gefahr für Menschen. Dennoch haben Hunderte von Schulen Rindfleisch vom Speiseplan gestrichen, der Verbrauch ist landesweit um 15 Prozent gefallen, der Preis ist um zehn Prozent zurückgegangen. Inzwischen ist man auch in Bonn hellhörig geworden. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Antje-Marie Steen hat bei der Bundesregierung angefragt, ob ihr Narangs Untersuchungen bekannt seien. Und am Freitag hat sich der Bundesrat einstimmig für ein generelles Importverbot für britisches Rindfleisch ausgesprochen. Verbraucherschutz habe Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen und europäischem Recht, hieß es. Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) will dagegen an der bisherigen Regelung festhalten, wonach der Import unter bestimmten Auflagen erlaubt ist. Der Streit geht jetzt vor die Gerichte.
Zum Thema sendet Sat.1 heute um 22 Uhr im Rahmen von „Akte 95“ einen Filmbeitrag von Aribert Weis und Ralf Sotscheck
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