: Nazi-Opfer auf Pieroths Rotstiftliste
■ Die bundesweit einmalige Sonderregelung für NS-Opfer soll gestrichen werden. Unruhe in der Jüdischen Gemeinde
Die Streichliste aus dem Hause von Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) sorgt für erhebliche Unruhe bei ehemaligen Verfolgten des NS-Regimes. Nach der Vorlage des Haushaltsstrukturgesetzes, über das SPD und CDU in den ersten drei Verhandlungsrunden zu Rate saßen, sollen Rentenzahlungen für politisch, rassisch und religiös Verfolgte der NS-Zeit im nächsten Jahr um die Hälfte, nämlich 16 Millionen, und ab 1997 ganz gestrichen werden. Es seien „Hunderte von besorgten Anrufen und Briefen älterer Menschen“ bei ihm eingegangen, erklärte gestern der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Jerzy Kanal, gegenüber der taz. Er hoffe nicht, daß der Vorschlag umgesetzt werde: „Der Schaden für Berlin wäre immens.“
Das in den fünfziger Jahren beschlossene und bundesweit einmalige „Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus“ (PrVG) wurde 1990 vom Abgeordnetenhaus novelliert. Dabei wurde der Empfängerkreis auf jüdische Immigranten, die in der Zeit der deutschen Besatzung von 1941 bis 1945 in der UdSSR verfolgt wurden, erweitert. Rund 2.100 Personen erhielten in diesem Jahr eine Ausgleichs- oder Grundrente nach dem PrVG, so der bei der Innenverwaltung für Wiedergutmachungsfragen zuständige Senatsrat Joachim Scholz. Mehrere hundert seien Einwanderer aus der GUS.
Bei den PrVG-Leistungen handele es sich keinesfalls um „Doppelzahlungen“, wie immer wieder irrtümlich in der Öffentlichkeit angenommen werde, erklärte Scholz. So würden die Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz voll auf die PrvG-Grund- und Ausgleichsrente der Betroffenen angerechnet. Konkret: Die Berliner Rente verringert sich dadurch.
Die zusätzlichen Zahlungen des Landes für Opfer der NS-Zeit sind bescheiden. 554 Mark beträgt die Grundrente, die Ausgleichsrente 1.220 Mark für Ledige beziehungsweise 1.443 Mark für Verheiratete. Aus dem PrVG-Topf wurden in diesem Jahr 32 Millionen gezahlt, weitere 5 Millionen für Kuren oder Heilbehandlungen. Weil immer mehr NS-Verfolgte aus Altersgründen sterben, wurden für das kommende Jahr nur noch 30 Millionen eingeplant.
Jüdische Einwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion konnten Ansprüche nach dem PrVG nur bis zur Stichtagsregelung am 1. Januar 1991 anmelden. Im Falle einer Kürzung wäre dieser Personenkreis älterer und zumeist kranker Menschen besonders hart betroffen, so Kanal. Gar keine Zahlungen nach dem PrVG erhalten diejenigen Verfolgten, die in den letzten vier Jahren nach Berlin kamen. Als einziger Ansprechpartner bleibt ihnen die 1987 mit Unterstützung des Landes gegründete Stiftung „Hilfe für Opfer der NS-Willkürherrschaft“. Deren Zahlungen fallen noch bescheidener aus: Die monatliche Zuwendung bewegt sich nach Angaben von Scholz zwischen 300 und 350 Mark.
Befragt, warum ausgerechnet die Leistungen für NS-Opfer gestrichen werden sollen, meinte Bernd Krziscik, Büroleiter des Finanzsenators: „Es handelt sich um Überlegungen, schließlich stehen alle Posten zur Disposition.“
Kanal nannte die Idee der Finanzverwaltung „widersinnig“. Neben dem politischen und moralischen Aspekt werde durch die Streichung der PrVG-Leistungen, für die eine Gesetzesänderung notwendig wäre, nur umgeschichtet. Schließlich würden dann rund ein Drittel der Betroffenen in die Sozialhilfe abrutschen.
CDU und SPD distanzierten sich unterdessen gestern vom Vorschlag der Finanzverwaltung. Das Thema sei „hochsensibel“, erklärten gestern unisono SPD-Fraktionsvorsitzender Klaus Böger und sein Kollege von der CDU, Klaus- Rüdiger Landowsky. Immerhin wurde der brisante Punkt während der Koalitionsrunden vorsorglich beiseite geschoben und soll, wenn überhaupt, noch einmal im Januar behandelt werden. Severin Weiland
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