Zeig mir den Plateauschuh!

Krähwinkels Stadttheater: Achim Freyers „Einerseits und Jenseits“ widmet sich dem bodenständigen Kalauer (Heinrich Zille) und quälenden Beckett-Stereotypen (Alberto Giacometti)  ■ Von Esther Slevogt

Ein Abend kurz vor Weihnachten im Hebbel-Theater. „Einerseits und Jenseits“ hieß die Veranstaltung. Einerseits Heinrich Zille, der Berliner Maler-Zeichner-Fotograf des legendären „Milljöhs“, dessen pralle Wirklichkeit er mit wenigen Strichen auf Papier festhalten konnte. Und eben nicht andererseits, sondern jenseits Alberto Giacometti, der Schweizer Bildhauer und Maler, dem die Wirklichkeit schlechthin zum Problem geworden war. Der sie mit seiner Bildhauerei in den Griff bekommen wollte, wobei ihm aber sein Material im Gestalten unter den Fingern sprichwörtlich zerrann und jene spindeldürren, filigranen Figuren übrigblieben, mit denen er berühmt geworden ist.

Der Maler und Bühnenbildner Achim Freyer, der aus Texten von und um diese beiden gegensätzlichen Künstler diesen Theaterabend komponierte, steht seit Jahren für ein Theater an der Schnittstelle zwischen bildender und darstellender Kunst. Bekannt wurde er besonders mit bildmächtigen Opern- und Schauspielinszenierungen, die jedoch das Publikum häufig in zwei radikale Lager spaltete: Die einen jubelten, die anderen buhten kräftig.

Diesmal fast ein Kammerspiel. Der erste Teil gilt Heinrich Zille. Die beiden Darsteller Michael Hirsch und Robert Podlesny betreten auf enormen Plateauschuhen die leergeräumte Bühne. Zwei buntgeschminkte Figuren im grellen Fummel – Transvestiten oder Bordsteinschwalben, wer weiß das schon? Siebzig Minuten lang sprechen sie einen Dialog „im Milieu und Sprachidiom des Molochs Berlin“, wie es die Ankündigung des Theaters formuliert. Ein Sprachidiom allerdings, das einem nach wenigen Minuten doch sehr einseitig kalauerorientiert vorkommt. „Ich lernte sie als Perle kennen / jetzt jeht se mit die Kerle pennen.“ Duftende Rosen reimen sich selbstverständlich auf offene Hosen, und „Ida macht den Flieda nieda“. Da hat doch die Stadt – und auch zu Zilles Zeiten schon – noch ganz andere O-Töne zu bieten. Bei Freyer dominiert die Zote. Manchmal deftig und manchmal zart. Und immer ein bißchen peinlich. Etwas Philosophie wird später dazugemixt. Oder was man sich unter Philosophie halt so vorstellt: „Was ist der Mensch? Des Todes Ziel!“ Dazwischen Hinterhof-Anekdoten und Kleinbürger-Miniaturen. Wenn die Sätze zu ernst geraten, springt ein veritabler Lachsack unterm schrillen Kleidchen an. Lieblingsrequisit aus Krähwinkels Stadttheater. Man muß halt die Sätze feiern, wie sie fallen.

Während die beiden Darsteller ihre vielen bunten Sätze sagen, stelzen sie in die Tiefe von Aniara Amos' Bühne hinein und wieder an die Rampe zurück. Immer denselben Weg. Dabei wird mal der Hals befummelt, mal das gepunktete Kleid. Oder das Gesicht zur Grimasse verzogen. Sonst passiert wenig. Als sollte der Minimalismus der Einfallslosigkeit eine seriöse Verpackung liefern.

Nach der Pause dann Teil zwei. Der Bodenbelag wie ein Atelierfußboden, farbverschmiert. Die gleichen Darsteller, nicht mehr grell, sondern grau in grau. Und so merkt man gleich: Jetzt wird es ernst. Schließlich kommt nun das Jenseits – sprich Giacometti – dran. Es wird bedeutungsvoll posiert, die Miene qualvoll verdüstert. Weltbewegende Sätze fallen: „Jeder Mensch ist ein Abgrund.“ Oder: „Schwarz ist meine Botschaft.“ Denn hier ringt ganz unverkennbar ein Künstler mit sich selbst. Oder sollte man besser sagen: ein Künstlerklischee? Auf den saloppen Berliner Zille-Ton folgt streckenweise deftiges Bayerisch. Doch was das mit Giacometti zu tun hat, blieb das Geheimnis der Aufführung. Die 35 Minuten bleiben konturlos und starr. Freyer läßt uns auf Allgemeinplätzen über Kunst und Künstler sitzen. Von der künstlerischen Ausnahmeerscheinung Giacometti allerdings fehlt jede Spur. Hier spukt eher ein Beckett-Stereotyp.

Ein flacher, ein enttäuschender Abend. Die Zuschauer verließen in Scharen das Theater. Am Ende applaudierte nur noch ein hartgesottenes Fanpublikum. Der Rest floh in die eisige Berliner Nacht.

„Einerseits und Jenseits“. Sprachmusikalische Stücke mit Texten für, um und frei nach Heinrich Zille und Alberto Giacometti. Bühnenbild u. Regie: Achim Freyer; mit: Michael Hirsch und Robert Podlesny, bis 30. 12., 20 Uhr, im Hebbel-Theater