: Schüler können nicht mehr gehen
■ Hansjörg Kofink, Präsident des Sportlehrerverbandes, übt scharfe Kritik an der Zurückdrängung des Schulsports
Stuttgart (dpa) – „Der deutsche Schulsport ist auf dem Wege, nicht mehr ausreichend zu sein, sondern in den Bereich ,mangelhaft‘ zu rutschen“, warnt Hansjörg Kofink, der Präsident des Deutschen Sportlehrerverbandes (DSLV). „Unter dem Diktat leerer Kassen und auf Anraten von Unternehmensberatern haben die deutschen Schulminister den Sportunterricht zur Verfügungsmasse degradiert.“
Noch vor drei Jahren hatten 22 Sportwissenschaftler in einer Expertenbefragung der Kultusministerkonferenz klar festgestellt, daß „bei Betrachtung aller pädagogischen, anthropologischen, gesellschaftlichen und medizinischen Aspekte eine Reduzierung der bestehenden drei Sportstunden ein verhängnisvoller Fehler“ wäre. Doch schon damals wurden Stunden gekürzt. Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz strichen seit Beginn der 90er Jahre die dritte Wochenstunde Sport in Klassenstufen der Sekundarstufe I – das sind die Klassen 5 bis 10. Mit Beginn dieses Schuljahres hat das Saarland die dritte Sportstunde für die gesamte Stufe gestrichen; in Nordrhein- Westfalen und Bremen wird darüber diskutiert. „In fünf Jahren“, fürchtet Kofink, „gibt es Schularten, in denen es keinen Pflichtunterricht Sport mehr gibt.“
Die Folgen wären seiner Meinung nach fatal: „Fehlende Bewegung im Kindesalter hemmt nicht nur die individuelle Entwicklung, sondern auch die soziale Entwicklung.“ Schon heute seien ausgeprägter Egoismus und mangelnde Sozialfähigkeit sowie ungenügende körperliche Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig steigender schulischer Belastung die Knackpunkte im Pädagogenalltag.
Eine Problem ist auch der Mangel an Fachkräften. „Durch die restriktive Einstellungspolitik fehlen uns 15 Jahrgänge Sportlehrer. Kein Wunder, daß Sportlehrkräfte unter 40 Jahren zu Exoten geworden sind und in den Gymnasien der Altersschnitt der Sportlehrer gegen 50 strebt.“ Als Folge des Lehrermangels hat Kofink eine neue „Fächerhierarchie“ ausgemacht, die den Eltern unzumutbare Entscheidungen („Englisch oder Sport?“) abverlange und die Fächer in „wichtige und unwichtige“ teile. Sport, Kunst, Musik und Religion stünden auf dem Index. Dabei solle der musische und ethische Bereich eigentlich im Vordergrund stehen. „Ändern muß sich das Anspruchsverhalten der Eltern“, forderte Kofink, „es ist doch besorgniserregend, wenn Wandertage ausfallen müssen, weil Schüler nicht mehr in der Lage sind, ein oder zwei Stunden lang zu gehen.“
Als „unsinnig und verrückt“ bezeichnete der Sportlehrer die Streichung des Sports in den Berufs- und Sonderschulen: „In der Berufsschule erfüllt der Sport Sozial- und Komplementärfunktionen, in der Sonderschule ist er therapeutisch wichtig.“ Kofink versteht nicht, weshalb Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt in bezug auf die Ausgaben für Bildung „am Schwanz“ stehe. Als Sofortmaßnahmen fordert er die Einrichtung eines Bund-Länder-Instituts für den Schulsport sowie eine konzertierte Aktion von DSB, Landessportbünden und Fachverbänden zur Rettung des Schulsports.
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