■ Silvester: Von Torsten Preuß Letzte Folge
Die taz-Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot in die DDR 1984 in Dresden Silvester feiert, geht heute zu Ende. In der taz vom 20. 12. 95 ging's groß los, dann taz- täglich weiter (zweite bis siebte Folge vom 21. bis 29. 12. 95).
Der Grenzsoldat wurde langsam nervös. Er klopfte mit seinem Zeigefinger auf seine Armbanduhr und machte ihm klar, daß der Zug nicht abfahren würde, bevor er nicht eine vernünftige Erklärung für das bekam, was er aufgeregt „Problema“ nannte. Er blieb dabei. Der Soldat holte Verstärkung. Zu viert standen sie in seinem Abteil.
Er wiederholte seine Geschichte.
Er erzählte ihnen, daß er nur für die erste Nacht ein Hotelzimmer in der Prager Innenstadt gefunden habe.
Schließlich war Silvester.
Also habe er das Angebot eines Mannes angenommen, der ihn vor einem Reisebüro zu sich nach Hause einlud.
Das sei eine rein private Unterkunft gewesen, deshalb hatte er keinen Stempel. Und weil der freundliche Gastgeber auch für alles bezahlt habe, habe er erst heute tauschen müssen und ihm dann das Geld gegeben.
Die Grenzsoldaten redeten auf ihn ein: „Adresse, Adresse!“
Er erzählte etwas von einem „Neubaugebiet“ auf einem Hügel und bedauerte, daß er die Adresse nicht mehr zusammenbekam. Sie merkten, daß es sinnlos war, und er merkte, daß sie das wütend machte.
Sie fragten ihn lautstark nach seinem Gepäck. Er erzählte, daß er das schon in Budapest aufgegeben habe, weil er in Prag eigentlich nur einen Kurzurlaub verbringen wollte.
Sie verließen das Abteil. Seinen Ausweis nahmen sie mit.
Er blickte aus dem Fenster. Am Kiosk auf dem Bahnsteig standen Männer mit Pudelmützen und tranken Bier aus Flaschen.
Der Zug stand jetzt vierzig Minuten länger als geplant. Er wußte, daß das größte Risiko darin bestand, daß einer der Soldaten etwas ausgeschlafen war und bei dem Blick auf „Geburtsort Dresden“ ein paar Sachen zusammenzählen würde.
Die Männer auf dem Bahnsteig gegenüber prosteten sich zu und lachten.
Hinter ihm ging die Tür auf.
Er sah sie im Fenster.
Sie waren zu zweit.
Sie sprachen von „Einreiseverbot“ und drei Monaten, und der Ältere schrieb etwas auf das Visum, das er behielt. Seinen Westberliner Personalausweis gaben sie ihm zurück. In der ersten Stunde des 10. Januar 1985 verließ der Zug die CSSR. Er schlief einfach ein und als er fünf Stunden später aufwachte, wußte er, daß er kurze Zeit später noch einmal dort sein würde, wo er gerade herkam.
Wenn er das Geld gehabt hätte, wäre er geflogen. Aber so blieb ihm nur der Weg über Land.
Er saß im Interzonenzug Nürnberg–Berlin West, und als die Grenzsoldaten der DDR mit der Paßkontrolle begannen, wünschte er sich, daß sie noch nichts von seinem Abstecher nach Dresden erfahren hätten.
Ein paar Stunden später hielt der Zug in Halle an der Saale, obwohl das nicht üblich war.
Er stand im Gang und schaute aus dem Fenster.
Polizisten standen breitbeinig entlang dem Zug und paßten auf, daß weder jemand den Zug verließ noch ihn bestieg.
Am Ende des Gangs ging die Tür auf. Der Grenzsoldat, der vor nicht mal einer Stunde seinen Ausweis kontrolliert und dabei seinen Geburtsort Dresden betont hatte, lief auf ihn zu.
Er blickte auf den Bahnsteig. Der Schaffner hob die Kelle. Der Zug fuhr mit einem leichten Ruck an. Der Grenzer sagte: „Baustelle. Soll's ja in der BRD ooch jeben.“
Dann hielt er ihm eine Schachtel „F6“ hin. Er griff zu. Sie rauchten und blickten in die alten Dörfer entlang der Strecke. „Das werden Sie wohl die nächsten hundert Jahre nicht mehr besuchen können“, sagte der Vertreter der Paß- und Zollorgane der DDR zu ihm. „Schade“, antwortete er und blies den Rauch aus dem offenen Fenster in die kalte Luft. Dann drehte er sich um, ging in sein Abteil zurück und schloß die Augen. Es war nicht so, daß der Grenzsoldat recht behalten hätte.
Aber das wußte er erst später.
Ende
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