Man trifft sie an Tankstellen

■ William Blake als gesetzloser Kleinstadt-Billy und ein Indianer namens Nobody: Jim Jarmusch über die Neue Welt als mystisches Buch in seinem Western „Dead Man“

taz : Für einen Western ist „Dead Man“ nicht gerade zimperlich: 16 Leute werden erschossen.

Jim Jarmusch: Ich glaube, es waren nur 13.

Tote jedenfalls. Das ist viel für einen Filmemacher, der sonst lethargische kleine Verlierer zeigt. Und nun Massenmord und Totschlag.

Die Geschichte ist doch bloß als Reise aufgebaut, bei der man dem Outlaw Blake und einem Indianer namens Nobody folgen kann. Wenn du einen Film über die Vergangenheit Amerika machst, mit einer Hauptfigur, die das Gesetz gebrochen hat, dann geht es vermutlich nicht ohne Gewalt. Aber ganz Amerika ist auf Gewalt, Gewehre und Genozid gebaut, auch wenn diese Tatsache ständig verleugnet wird.

Es ist eine Reise durch den Westen?

Genaugenommen durch und in den Westen der USA. Historisch ist die Sache ziemlich klar: Die Europäer kamen im Osten an und zogen weiter. Wenn man diese Idee zu Ende verfolgt, dann geht Blake auf der Reise das Land verloren. Er muß also woanders suchen, über den Pazifik hinaus.

Es gibt Parallelen zur Literatur, in der Eingangssequenz mit den Verwaltungsapparaten in der Stadt Machine ist es Kafka. Am Ende führt die Reise wie bei Conrad ins Spirituelle, ins Herz der Finsternis. Dazwischen wird das Schicksal der Protagonisten abgehandelt – offen wie in einem Buch. Welche Rolle spielt Film als Text?

Nun, die Figur William „Bill“ Blakes hat etwas von Textproduktion. Er ist zu Beginn ein unbeschriebenes Blatt Papier. Blake besitzt keine Identität, sie wird erst durch den Film gebildet. Andere Menschen und Ereignisse schreiben ihm den Text ein. Dadurch wird er zum Gefäß, das die Story mit sich trägt. Ich hoffe, sie können damit etwas anfangen, ich bin nicht sehr analytisch in der Beschäftigung mit meinen Filmen.

Wieso dieses Verwirrspiel um den Cowboy Blake und den gleichnamigen Dichter aus Europa?

William Blake war ein Feind der Technik und ein Freund des Christentums. Aber er war auch ein Gegner der Kirche. Er verabscheute jegliche Kriege und glaubte zugleich an das Heil durch die Französische Revolution. Vor allem war Blake ein Mystiker, der sich die Existenz von Göttern nur in der Einbildungskraft des Menschen denken konnte. Das bedeutet: Ich glaube an eine höhere Kraft, die nur aus mir selbst kommen kann. Darin berühren sich seine Vorstellungen mit denen von Nobody.

Weil er Indianer ist?

Nobody bewundert Blake, aber er ist etwas verwirrt im Kopf. Sein Dilemma ist das vieler noch lebender Indianer: Auf der einen Seite sind ihre Tradition und Erbfolge total gefestigt, auf der anderen Seite wurde ihre Kultur ausradiert und nur als Mythos für Hollywood- Filme festgehalten. Die Ausrottung der Indianer ging mit dem Zug nach Westen einher. Nobody ist ebenso wurzellos wie Blake.

Und deswegen heißt er Nobody?

Er verkörpert das Wissen um die indianische Kultur als eine Art kollektives Unbewußtes. Aber seine eigenen Leute lehnen ihn ab, weil er in Europa war und sich schon zu sehr auf die Weißen eingelassen hat. Das macht ihn schwankend. Er hat im Westen gelernt, aber das Gelernte gehaßt. Das einzige, womit er in dieser Situation etwas anfangen konnte, waren die Gedichte von William Blake, der ja selbst ein Outcast und Wilder in seiner eigenen Gesellschaft war.

Für Blakes Philosophie war Natur entscheidend. In „Dead Man“ ist der Umgang damit eher widersprüchlich: Die Leute agieren fremd in der Landschaft. Man sieht es an der Kameraführung: Es sind nie die Panoramashots und erhabenen weiten Prärien des alten Western. Hier ist alles eng zusammengezurrt, wie in einem Kammerspiel.

„Dead Man“ wirkt sehr intim. Als wir nach einem Setting suchten, haben wir uns an solchen Punkten in der Landschaft orientiert, die wie Kalenderblätter oder Postkarten aussahen. Jedenfalls ziemlich wundervoll. Sobald wir von einem Anblick genug begeistert waren, entschieden wir uns für diesen Drehort – und kehrten die Kamera um. Wir filmten die Location, von der aus wir diese tolle Gegend gesehen hatten. Wir wollten nicht zeigen, was man sonst im Kino sieht, sondern von welchem Platz es die Kamera sieht. Statt des majestätischen Monument Valley oder irgendeiner John-Ford-Szenerie sieht man nun den lustigen grauen Fels, den dürren Baum, einen Hügel. Alles sollte eine Nummer kleiner sein, realistischer.

Armin Müller-Stahl mochte an der Arbeit zu „Night on Earth“, wie Sie Reales und Absurdes vermischen. Hier wirkt das Westerngenre zwar realistisch, aber auch ein bißchen überdreht. Sind 100 Jahre nach dem Goldrausch vom Mythos des freien Westen nur ein paar verstreute Bilder und Momente übriggeblieben?

Vielleicht. Aber für die Indianer des Nordwestens war das Leben doch schon in vergangenen Zeiten perfekt: Sie hatten genug Fisch, den sie für die Winterzeit einlegen konnten, sie hatten genug zu rauchen. Sie lebten wie in einem Paradies voller Ressourcen, das machte sie erfinderisch, vor allem, was Architektur betrifft. Es gab in ihren Dörfern sehr theatralische Bauten. Im Film sieht man den totemartigen Eingang zu einer Hütte, der sich mechanisch öffnet und verschließt. Das gab und gibt es wirklich. Alles konnte entstehen, wenn man die Natur als höhere Macht ansah. Wir sind diejenigen, die dieses Vermögen verloren haben.

Sie mögen solche Sachen. Für Mika Kaurismäkis „Tigrero“ haben Sie sich von den Eingeborenen rituell bemalen lassen. In „Dead Man“ hat Blake zum Schluß Visionen wie sonst nur Kinski in Filmen von Werner Herzog.

Je weiter man nach Westen kommt, um so stärker wiegt das Gefühl, das Land sei von einem merkwürdigen Spirit durchzogen. Selbst beim flüchtigen Blick durchs Autofenster kann man sich dieser Wahrnehmung nicht entziehen. Mit den Indianern ist es nicht anders: Man trifft sie zwar an Tankstellen, wo sie herumhängen, betrunken und ohne jeden Humor. Trotzdem ist da etwas von dieser Verbundenheit, die nicht verlorengegangen ist.

Das klingt sehr nach „zurück zu den Wurzeln“?

Ich meine nicht, daß man in der Zeit zurückgehen kann. Nur wird die Natur von jedem erst beachtet, wenn es zur Katastrophe kommt. Oder wie ein indianisches Mädchen mir über Kalifornien erzählte: Die Leute hier haben Angst vor Erdbeben. Wie kann das angehen? All das fruchtbare Land verdankt sich lediglich Erdbeben. Wie kann man da in Kalifornien leben und doch nicht mit Erdbeben klarkommen. Wer keine Erdbeben mag, soll doch nach Nevada ziehen. Dort ist alles flach und verdörrt, weil es halt keine Beben gibt. Das erscheint mir sehr logisch, nur denken wir nicht darüber nach.

Ist es nicht schade für Blake, daß er all diese Dinge verstehen lernt, um am Ende doch nur zu sterben. Wäre er nicht besser gleich in Machine geblieben?

Dann hätte er ein Scheißleben geführt: Arbeit, bis er 75 Jahre alt ist. Das ist doch eine depressive Vorstellung, ohne jede Magie. Für mich hat er sich davon befreit, er lebt zwar nur kurz, dafür erlebt er aber viel. Er sieht die Natur anders, er hat sogar Visionen. So was kann passieren. Selbst wir hier in diesem Raum könnten Visionen haben, wenn wir uns nicht zusammenreißen würden, um dieses Gespräch zu führen. Blake ist sich all dessen nicht bewußt. Nur geht sein Leben zu Ende, und da waren dann doch Erfahrungen, die niemand hatte.

Warum haben Sie Johnny Depp für die Hauptrolle ausgewählt. Ist er so ein spiritueller Typ?

Nein, nicht deshalb. Er ist das, was ich schon zu Beginn gesagt habe, eine Art weißes Blatt Papier. Und er kann perfekt in diese Welt einsteigen. Johnny stellt sich komplett auf den Charakter ein und nimmt nahezu unbemerkt alle Veränderungen in sich auf – als würde er sich durch seine Erfahrungen wie auf einer unsichtbaren Landkarte bewegen. Er wird zum Outlaw, ohne daß man es ihm ansieht. Nichts ist theatralisch übersteigert, anders als in jedem Western agiert Johnny nicht als Motor, der die Dinge vorantreibt, er schaut eher zu und läßt sich auf das Geschehen langsam ein. Man hat nie den Eindruck, als würde er die Ereignisse vorantreiben, das meiste geschieht wie durch Zufall.

Die Musik von Neil Young paßt zu dem Bild, das Johnny Depp abgibt. Modern, aber psychedelisch. Es ist, als würde sich ein Kreis zwischen Sixties-Beatniks und den neunziger Jahren schließen – alle begegnen sich „on the road“?

Jack Kerouac war in den Fifties, die Sixties waren nur noch von ihm beeinflußt. Johnny Depps Generation wiederum ist mit den Seventies aufgewachsen, und ich komme vom Punk. Die Verbindung zur Beat-Generation war nicht geplant. In meiner Jugend hat man Hippies gehaßt, gleichzeitig kam „Rust never sleeps“ heraus, wo Young über Jonny Rotten sang. Und jetzt steht Neil Young für eine Koalition aus Punk, Metal und Seattle. Er ist ein Überlebender aus den diversen Szenen.

Sie selbst leben in New York und zeigen den Wilden Westen als ein schrulliges, doch gespenstisches Land. Geht es nicht auch um die komischen Seiten der Melancholie?

Das hoffe ich zumindest. Wenn Leute mich fragen, warum ich einen Film über den Tod gemacht habe, dann antworte ich: Nein, es ist ein Film über das Leben, und der Tod gehört halt dazu. „Dead Man“ akzeptiert diesen Umstand. Man kann den Verlust auch feiern. Interview: Harald Fricke

„Dead Man“. Regie: Jim Jarmusch. Mit: Johnny Depp, Gary Farmer, William Hurt, Robert Mitchum und anderen. Kamera: Robby Müller. Musik: Neil Young. USA/D 1995, 121 Min.