Ein bißchen Westen

■ Die Firma organisiert das Leben: Gymnastik am Morgen, Essen am Mittag, Spaß am Abend. Doch am Sonntagnachmittag ist alles anders. Der Yoyogi-Park wird dann zur Bühne für Elvis-Jünger, Raver-Fans und leichtbekleidete Mäd

Die Länge ihrer Röcke ist in Handbreiten zu messen, und die knappen Leibchen geben den Blick frei bis zum Bauchnabel. Ihre Haare haben sie blond gefärbt, mit Zuckerwasser gesteift und zu Locken gedreht. Die Jungs an ihrer Seite tragen die Lederjacke offen und sonst nichts darunter. Sie wollen singen, lachen, tanzen. Zu Tausenden strömen sie in den Yoyogi- Park im Stadtteil Harajuku. Pünktlich um 13 Uhr wird die Straße durch den Park für den Verkehr gesperrt. Das Spektakel der Ausgelassenen kann beginnen.

Längs der Parkwege schlagen fliegende Händler ihre Freß- und Trinkbuden auf. An die Ghettoblaster werden Verstärker geklemmt, ohrenbetäubend laut röhren die Rockidole vergangener Protestgenerationen des Westens über den Rasen. Was an sechs Tagen in der Woche unmöglich scheint, wird am siebten wahr. Tokios Jugend macht Pause vom durchorganisierten Alltag.

Den Platz vorne beim Parkeingang hat sich der „Tokio-Rockabilly-Club“ reserviert, eine Handvoll angejahrter Jungs um die 30. Das Haar mit Wet Gel zur Elvistolle gerollt, der Oberkörper nackt, schwingen sie sich auf Elvis ein, so, als hätten sie nie etwas anderes im Leben gemacht. Ihre Entenschnabelschuhe sind von den vielen sonntäglichen Vorstellungen bereits durchgetanzt, schwarzes Isolierband hält die Schuhsohlen leidlich zusammen. Wie in einer richtigen Vorführung in den fünfziger Jahren fehlen auch die Groupies nicht. Lässig klatschen vier blonde Mädels den Takt.

Wie strenge Nachtclubbesitzer achten die tanzenden „Rockabillys“ darauf, daß keiner der gaffenden Zuschauer sich zu ihnen gesellt. Wer's dennoch wagt, wird weggescheucht. Angucken und filmen lassen sich die Jungstars gerne, aber mitmachen ist nicht erlaubt. Weniger kastenbewußt sind da die Freunde der Techno-Musik. Ihre Boxen stehen außer Hörweite unter der Fußgängerbrücke. Hier darf sich jeder das Fell vom Leib schwitzen. Sogar die beiden Touristen, denen die gepiercten Brustwarzen frech aus dem Boxerhemdchen linsen. Länger als 15 Minuten halten die angegrauten Amerikaner den Volltonbeat nicht durch. Völlig außer Puste täschelt der kurzrasierte Specknacken in Plastiklatschen seiner Freundin den Po: „Let's go, baby.“

Es ist drei Uhr, und die Zeit rennt. Aufgekratzte Mädchen ziehen lachend im Pulk vorbei. Soviel Haut wie sie am Sonntagnachmittag zeigen, werden sie sich am Strand beim Badeurlaub kaum gestatten. Jeder, der sich hier ausstellt, spielt einen Tag lang lasziv mit seinem Körper. Morgen werden sie wieder in blau-weißen Uniformen auf dem Schulhof stehen und Jojo spielen. Oder im Bürokostüm mit Handy und Aktentasche an den Schreibtisch hasten.

Nur Ina nicht. Für sie ist der superkurze Minirock Arbeitskleidung. An sechs Tagen in der Woche steht sie abends vor einem Karaoke-Club im Amüsierviertel Roppongi und animiert die vorbeischlendernen Geschäftsleute zu einem Drink. Ina ist 22, wohnt eigentlich in Ostberlin und arbeitet seit zwei Monaten schwarz in Japan. Jeden Sonntag kommt sie in den Yoyogi-Park, „um ein bißchen westliche Welt zu schnuppern“, wie sie sagt. „Aber irgendwie ist der Sonntag im Park auch langweilig. Immer die gleichen Leute, immer das gleiche Programm.“

Jeden Sonntag zur gleichen Zeit fahren brave Schüler, Studenten und Angestellte ins Stadtzentrum, um sich zu amüsieren. Das Ritual läuft auf die gleiche wilde Art ab: Sie verwandeln sich in Vamps, ziehen Gruftieklamotten oder Wildweststiefel an. Was sonst tabu ist, wird am Sonntag schick. Frischverliebte trauen sich auf Parkbänken zu schmusen. Der Yoyoki-Park bietet ihnen die Bühne.

Um vier Uhr liegt ein schweres Gemisch aus Generatorendiesel und Moschus in der Luft, aber die Jugendlichen suchen in dieser Wolke nicht nach Freiheit. Ohne Aufforderung, ohne Verabredung, aber pünktlich um fünf Uhr packen sie die Verstärker wieder ein und gehen nach Hause. „Dieses geregelte Freizeitverhalten erinnert mich an die DDR,“ sagt Ina. „Da hatten wir auch am Samstagabend von acht bis eins FDJ-Disco, durften wild sein, und nachher hat ein Ordnerdienst die Spuren beseitigt.“ Kurz nach fünf ist die Straße wieder für den Autoverkehr freigegeben, wie von Geisterhand.

In Japan ist scheinbar alles an seinem Platz: der Kaiser oben, die Manager in den Firmen, der Arbeiter an der Leine. Die Früchte der permanten Erziehungsarbeit bekommt Ina zu spüren. Sie ist mit einem Angestellten einer Autofirma liiert, der sie aber seinen Kollegen gegenüber verheimlichen muß. Sein Bürokollektiv hat eine andere für ihn auserwählt – ein junges Mädchen aus der Firma. Die gesellschaftliche Sittenstrenge setzt sich auch im Animierclub fort. „Dort ist angrabschen tabu.“ Die Männer dürfen sich von Ina ins Lokal locken lassen. Je nach Tageszeit zahlen sie gestaffelte Preise. Wer zwischen sieben und neun Uhr abends kommt, zahlt pro Stunde 3.000 Yen (knapp 45 Mark) Eintritt, ein Whisky ist frei, nach Mitternacht kostet die Stunde 10.000 Yen (150 Mark). Der Kunde darf sich mit Ina unterhalten. Sie schmachtet ihm auch noch ein Lied ins Mikrofon: „Am liebsten hören sie ,Michelle‘ von den Beatles oder ,99 Luftballons‘ von Nena.“ Die Japaner sind süchtig nach dem Karaoke, dem Gesang zur Tonbandmusik. Man spricht englisch, manche kommen einfach nur, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen. Andere zahlen für die Illusion des Begehrtwerdens. Ina glaubt, daß eine perfekt herausgeputzte Europäerin einem Mann die tägliche Frustation des geordneten Lebens nehmen kann. „Häßliche und alte Männer bezahlen mich dafür, daß ich ein wahres Interesse an ihnen vortäusche.“ Die Scheidungsrate in Japan ist verschwindend gering.

In Inas Club arbeiten überwiegend Europäerinnen, die auf Weltreise durch Südostasien sind. Vor zwei Jahren hat Ina sich mit 5.000 Mark aus Ostberlin aufgemacht. In Thailand ist sie gewesen, in Singapur, Malaysia und Hongkong, nach Korea will sie noch. Unter den Weltenbummlerinnen gilt Tokio als der Ort, wo man schnell die Reisekasse auffüllen kann. Überwiegend Ausländerinnen stehen auf der Straße und locken die Kunden in die Clubs. Prostituierte heißen Baishun-fu, „Frühlingsverkäuferin“. Für dieses Gewerbe werden Frauen von den Philippinen und aus Rußland bevorzugt. Sie lassen sich mit weniger Geld abspeisen. „Die richtigen Puffs sind fest in der Hand von Frauenhändlern“, erzählt Ina. Allwöchentlich werden junge Russinnen aus Moskau eingeflogen und lösen die ab, deren Touristenvisa nach drei Monaten abgelaufen ist.

Auch wenn Japan im Bereich der flüchtigen Vergnügungen seine Hintertür nach Westen öffnet, so werden die alten Formen doch nicht gesprengt. Noch reitet keine nackte Japanerin mit wehender Mähne an Bord eines Mazda Carbriolets über die Ginza, wie es einst Anita Ekberg in Rom auf der Via Veneto tat, und auf den Trottoirs der Waseda-dori brauchen die Bettelmönche keine Konkurrenz von feuerspuckenden Akrobaten zu fürchten. Nur am Sonntag geht es ein bißchen heißer zu als sonst – im Park bis fünf Uhr nachmittags.