■ Die FDP zieht mit Inbrunst in ihr letztes Gefecht
: Eroberung der Luft

Wo die Politik am Ende ist, schlägt die Stunde des Marketing. So könnte man sarkastisch den verzweifelten Versuch der Liberalen kommentieren, sich auf ihrem Stuttgarter Dreikönigstreffen Mut zuzusprechen. Je dünner die Luft, desto größer die Geste, mit der man die programmatische Atemnot beseitigen will. An programmatischen Seifenblasen hat es nicht gefehlt an diesem Wochenende. Doch strategisch gesehen ist die populistische Frontlinie von FDP-Generalsekretär Westerwelle gegen den bürokratischen „Entmündigungsstaat“ in einem Zeitalter explodierender individueller Bedürfnisse und gestiegener Risikolust des einzelnen nicht völlig falsch gelegt.

Wiewohl das Getöse vom „Wechsel von der Gefälligkeits- zur Verantwortungsdemokratie“ natürlich verschweigt, daß der angefeindete Sozialstaat erst die wirtschaftliche Leistung und das bürgerliche Selbstbewußtsein ermöglicht hat, als deren Hüterin sich die FDP gern aufspielt. Und es ist gefährlich. In ganz Europa flammt die soziale Frage neu auf. Wer da nur einer Minderheit Chancen anbietet, darf sich nicht wundern, wenn ihm der Laden um die Ohren fliegt.

Dabei hätte die FDP eine Chance, an dem notwendigen Ausgleich von Individualität und Kollektivität in einem neuen Gesellschaftsvertrag mitzuformulieren. In einer Zeit bröckelnder Parteiformationen käme es auf die intelligente Verknüpfung an. Daß die FDP nicht gerade der Kristallisationspunkt dieser Verknüpfung ist, leuchtet ein. Das Treffen in Stuttgart markierte, daß sie sich nun zielstrebiger dessen entledigen will, was sie in das politische Cross-over der Zukunft einzubringen hätte – ihr historisches Erbe der Bürgerrechte. Gerhardt und Westerwelle bahnen einem einseitigen Radikalliberalismus den Weg, dessen sozialdarwinistischer Zungenschlag zu den Stahl-Gesängen der selbstbewußten Deutschen paßt.

Diesem brenzligen Marketing-Hasardspiel das Totenglöcklein zu läuten, juckt es einem schon moralisch in den Fingern. Es könnte dennoch vorschnell sein. Schon die diversen liberalen Splitter der Weimarer Republik sind ein Beispiel dafür, daß nicht zu unterschätzen ist, wozu eine kleine, radikale Klientel unter dem Deckmantel der nationalen Gesinnung in Umbruchzeiten fähig ist. Ob der heute Mehrheiten über die Zahnärzte hinaus findet, ist ungewiß. Mit der Inbrunst, die einem das letzte Gefecht stets eingibt, sang die FDP am Samstag die „Eroberung des Paradieses“. Vorerst ist es die Eroberung der Luft. Ingo Arend