: So nah und doch so fern
Die Türken in Deutschland verfolgten die Wahlen mit gemischten Gefühlen. Die Reaktionen sind so vielfältig wie in der Heimat. Das Internet sorgt für Nestwärme im kalten Winter ■ Von Dilek Zaptçioglu
Ein paar Klicks mit der Maus, und schon sind wir übers Internet mit den USA verbunden. Noch ein Klick, und es kommt die Türkeikarte auf den Bildschirm, weit über die Hälfte grüngefärbt: Überall dort ist die islamistische Refah bei den Wahlen am 24. Dezember zur ersten Partei geworden. Dann plaudern wir ein bißchen mit den Kumpels aus Harvard und New York über eine neue englische Sayyid-Qutb-Übersetzung, über die Mieten im East End und die Situation in Algerien.
Anhänger haben Islamisten nicht nur unter langjährigen Ford- Arbeitern, sondern auch unter jungen Studenten renommierter Universitäten, in der Türkei, in den USA oder in Deutschland. Kinder aus bürgerlichen, westorientierten Kreisen Istanbuls oder Ankaras entdecken während des einsamen Studiums im Ausland die Vorzüge des Glaubens und finden zu einer islamisch-türkischen Identität zurück. So auch Murat. „Als ich in den letzten Ferien zu Hause war, schämten sich meine Eltern und erzählten den Nachbarn, ich hätte diesen Bart nur aus Jux wachsen lassen“, sagt er lächelnd.
Er lächelt oft, denn er hat die ewige Wahrheit gefunden. Die steckt sauber aneinandergereiht im Ikea-Regal: „Religion und Modernismus“ von Ali Bulac, „Die vier Kerker des Menschen“ von Ali Scheriati, „Die Notwendigkeit der Familie und die Heimatlosigkeit im Modernismus“ von Cihan Aktaș. „Die Verdammten dieser Erde“ Fanons, Fromm, Marcuse, Marx und natürlich der Koran.
„Der Kapitalismus bringt niemandem Glück“, sagt er, „nicht einmal den Reichen, denn sie sind sich selbst entfremdet. Weil sie nur an das Leben hier und jetzt denken und nicht an die anderen, geschweige denn an ihre eigenen Kinder.“ Er kritisiert den sinnlosen Überfluß, den Verlust an menschlichen Werten, die Zerstörung der Umwelt, die Entmündigung des Einzelnen, seine Manipulation durch die Medien, die heuchlerische Politik des Westens. Mit diesen Ansichten würde er gut ins grüne Fundi-Lager passen, doch er hat sich für ein anderes Fundament entschieden.
„Hast du die neuesten Umfragen aus Ostdeutschland gelesen“, hält er mir eine Zeitung vor die Nase, „zuerst haben sie wie wild nach dem Kapitalismus gerufen, und jetzt sehen sie, daß er auch ihnen kein Heil bringen kann.“ Nächste Frage. „Ist dir schon mal aufgefallen, wie selbstverständlich die christliche Religion hier im Westen im Alltag gelebt wird? Nimm doch Weihnachten – es gibt kaum jemanden, der keine Geschenke kauft, der nicht anderen ein frohes Fest wünscht, und sogar in städtischen Kindergärten lernen die Kleinen, Adventslieder zu singen.“ Wohl wahr. „Und bei uns? In der Türkei ist es doch für die Eliten verpönt, in die Moschee zu gehen. Lieber gehen sie am Heiligabend in eine der Istanbuler Kirchen, weil das schick ist. Und wenn ein Staatsmann sich religiös äußert, ist gleich der Laizismus in Gefahr.“
Für Murat gibt es in der Türkei keine Trennung von Staat und Religion, sondern eine völlige Abkehr von den kulturellen Wurzeln. „Du kannst dir den Arsch aufreißen, um als Europäer anerkannt zu werden, aber du wirst immer der unterentwickelte Türke bleiben“, sagt er. Die Situation der Landsleute im Ausland sieht er als „tragisch“ an: „Immer um Anpassung bemüht, haben sie nie Anerkennung gefunden. Jetzt ist die Zeit, sich auf seine eigene Identität zu besinnen und Schluß zu machen mit der Servilität. Wir sind keine Sklaven des Westens ...“
Als Sklavin fühlt sich Leyla gewiß nicht, hat sie doch kürzlich ihre Kosmetikerinausbildung beendet und gleich eine vielversprechende Stelle gefunden. Ein für den Geschmack ihrer Eltern viel zu locker gebundenes Kopftuch, unter dem züchtig breiten Mantel hochhackige Pumps mit Tigerimitation, schwarze Seidenstrümpfe, passende Handtasche, kajalumrandete Augen, greller Lippenstift – komplett ist die Ost-West-Synthese à la Kreuzberg.
„Die Wahlen? Welche meinst du?“ fragt sie gelangweilt. „Ich halte nichts von Politik. Die Politiker sind doch sowieso alle gleich, ob hier oder in der Türkei. Sie wollen sich nur selbst bereichern.“ Ein ehrliches Statement, mehr fällt ihr dazu sowieso nicht ein. Ach ja, von Erbakan hat sie natürlich gehört, ist das nicht der Alte mit dem weißen Schnauzbart, der immer lächelt? Von der Refah auch, und daß sie die meisten Stimmen bekommen haben, aber: So what?
Im Teehaus ein paar Häuser weiter die üblichen Rauchschwaden im spärlichen Licht der nackten Glühbirne, ein paar alte Türkeiposter und die Fahne des Türkiyemspor an der Wand, düstere Gesichter, müde Hände, die mit den Würfeln ringen. Hoch oben in einer Ecke schwebt gefährlich der weiße Bildschirm über den Köpfen, das wichtigste Utensil jedes Kaffehauses von Taschkent bis Kreuzberg. Auf den Tischen die aktuellen Tageszeitungen! Hürriyet, Milliyet, Türkiye – allesamt mit großen Schlagzeilen von den Regierungsoptionen nach der Wahl: Die Konservativen plus die Sozialdemokraten, es gibt keine andere Möglichkeit als einer Dreierkoalition, wenn die Refah nicht an die Macht kommen soll.
„Laß sie doch“, sagt ein Älterer mit nikotingelben Fingern. „Die anderen sind doch alle erprobt. Und was haben sie dem Land gebracht? Nichts! Soll doch jetzt der Hodscha versuchen, die Inflation zu stoppen. Wenn er's schafft – wunderbar. Wenn nicht – auch gut. Dann haben alle gesehen, daß auch die Frommen nichts taugen.“
„Und ob sie was taugen!“ erbost sich ein anderer, jüngerer Mittdreißiger, aber er kommt kaum zu Wort: „Hör doch auf, du Schwachkopf!“ ruft einer, und zu mir: „Weißt Du, daß der vierhundert Mark ausgegeben hat, nur um nach Istanbul zu fliegen, am Flughafen seine Stimme abzugeben und dann wieder nach Hause zurückzukommen?“ Alle schütteln lachend den Kopf, der Mittdreißiger bekommt ein hochrotes Gesicht und endlich auch das Wort: „Hier nicht wählen, da nicht wählen, ich hab's satt!“ schreit er. „Jawohl, ich habe gewählt, und zwar die Refah. Sie sind die einzig Ehrlichen, stehlen nicht, halten ihr Wort und werden mit der ganzen Scheiße da unten aufräumen. Wartet nur ab, in fünf Jahren ...“ Seine freie Rede wird vom Teemann unterbrochen, der ihn barsch zurechtweist: „Hör jetzt auf, hier wird nicht über Politik debattiert.“
Über eins sind sich alle einig: Ins neue Jahr nehmen die Türken wichtige Lehren mit. „Hier, genau an demselben Platz saß ich, als die Çiller ihre Rede an die Auslandstürken hielt“, sagt ein Rentner, „regelrecht gebettelt hat sie um unsere Devisen. Wir haben überwiesen. Dann spendeten wir brav für die Armee. Ohne unsere D-Mark wären sie längst bankrott. Und was ist der Dank dafür?“
Von einem Ministerium nur für die Belange der Auslandstürken war damals die Rede, wichtige türkische Politiker gaben sich in Bonn und Berlin die Klinke in die Hand, besuchten Vereinslokale und Opfer von Bbrandsnschlägen im Krankenhaus. Anschließend große Berichte in den Deutschlandausgaben der türkischen Zeitungen: „Unsere Belange werden endlich wahrgenommen“ – „X sprach beim Innenminister vor und verlangte mehr Schutz für türkische Bürger in Deutschland!“ – „Das Schulproblem unserer Kinder soll gelöst werden!“
Die Sprechblasen entpuppten sich natürlich bald als leer. Die von Çiller versprochene größte Neuigkeit, das aktive und passive Wahlrecht der Auslandstürken vor Ort, wurde nicht umgesetzt. Es gab trotz Panikmache des Spiegel-Herausgebers Augstein nicht mal einen konkreten Plan. Sollte in Konsulaten abgestimmt werden, waren dafür viele Tage notwendig, und die deutschen Behörden wollten den großen Sicherheitsaufwand nicht auf sich nehmen. Das Bonner Innenministerium erklärte, für die Türken käme nur die Briefwahl in Frage, was Ankara aber nicht wollte. Als dann die Äußerung eines hohen türkischen Politikers durchsickerte, „unsere Arbeiter würden ihre Stimmen sowieso dem Meistbietenden verkaufen“, war das Faß voll.
Die Verbitterung über die Behandlung als „goldene Eier legende Hennen“, die man nicht einmal zu mästen brauchte, ist unter den Türken gewachsen. Die Bindung an die Heimat ist nunmehr ein nostalgischer Traum, man ist viel zu sehr mit seinen eigenen, wachsenden Problemen beschäftigt, als noch für ferne, abstrakte Ziele zu kämpfen. Das belegen auch die Mitgliederzahlen türkischer Vereine in Deutschland. „Die eigene Kultur und Religion bewahren“ – die Parole der Islamisten kommt an. Zweckorientierte Organisationen wie Elternvereine finden auch Unterstützung, aber die anderen Vereine sind Köpfe ohne Rumpf. Auf den Chefetagen sitzen meistens Sozialarbeiter und ähnliche, sich ihr Brot durch die Arbeit mit den hiesigen Türken verdienende Leute. Um staatliche Zuschüsse und Vorstandssessel tobt ein erbitterter Kampf.
Und für die Kurden hat diese Wahl eines bestätigt: Ihre legal gewählten Vertreter sind in Ankara unerwünscht. Hätte es in der Türkei neben der 10-Prozent-Hürde noch die Option mit Direktmandaten gegeben, hätten die Kurden über 20 Abgeordnete ins Parlament geschickt.
Mit wem man auch spricht: Die überwiegende Mehrheit der Menschen aus der Türkei traut den Politikern überhaupt nicht mehr. Die Türkei ist für die Älteren ein Ruhedomizil für sechs Monate im Jahr. Ihre Kinder und Enkelkinder bleiben hier. Die immensen Verteuerungen, die miserable medizinische Versorgung, die ungewisse Zukunft machen die Türkei für niemanden besonders attraktiv. Es sei denn für einige Monate im Jahr, vorzugsweise im Sommer, ein kleines Häuschen am Meer und vielleicht ein Boot, auf dem man bei einer Flasche Raki den Sonnenuntergang genießen kann. Und auch, wenn die Islamisten an die Macht kämen – sobald sie den Raki verbieten, ist der nächste Regierungssturz vorprogrammiert.
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