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Ein Denker des Nahverkehrs

Georg Simmel, der in den achtziger Jahren vor allem durch Klaus Wagenbachs Verdienst eine kleine Renaissance erlebte, bekommt nun endlich eine sorgfältig edierte Gesamtausgabe. Zuletzt sind die Bände 7 und 10 erschienen, von denen ich vor allem den ersten zur Anschaffung empfehle, denn er enthält einige grundlegende Essays des immer noch am meisten unterschätzten Denkers auf der Schwelle vom 19. zu unserem Jahrhundert. Die Aufsätze sind hier erstmals chronologisch versammelt, was ganz nebenbei einen Einblick in die geistige Entwicklung Simmels zwischen seinen philosophischen und soziologischen Hauptwerken, der „Philosophie des Geldes“ (1900) und der „Soziologie“ (1908) erlaubt.

Warum soll man ihn lesen? Simmel ist ein Denker des Übergangs, der im Berlin der Jahrhundertwende die verspätete, aber daher um so drastischere Durchsetzung der Moderne erlebte und dabei etwas in der deutschen Tradition bis heute Seltenes begründete: eine Kritik der Moderne ohne Ressentiment. Beispielhaft dafür ist der berühmte Vortrag über „Die Großstädte und das Geistesleben“ und darin wiederum die Analyse von Blasiertheit, Reserviertheit und Aversion als typischen Formen psychischer Verfaßtheit des Großstädters. „Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten..., so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten ... das Recht auf Mißtrauen, das wir gegenüber den in flüchtiger Berührung vorüberstreifenden Elementen des Großstadtlebens haben, nötigt uns zu jener Reserve, infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen läßt. Ja, wenn ich mich nicht irre, ist die Innenseite dieser äußeren Reserve nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung ... Die Sphäre der Gelichgültigkeit ist dabei nicht so groß, wie es oberflächlich scheint. Thatsächlich wäre diese letztere uns ebenso unnatürlich, wie die Verschwommenheit wahlloser gegenseitiger Suggestion unerträglich, und vor diesen beiden typischen Gefahren der Großstadt bewahrt uns die Antipathie ... sie bewirkt die Distanzen und Abwendungen, ohne die diese Art Leben überhaupt nicht geführt werden könnte: ihre Maße und ihre Mischungen, der Rhythmus ihres Auftauchens und Verschwindens, die Formen, in denen ihr genügt wird – dies bildet mit den im engeren Sinne vereinheitlichenden Motiven ein untrennbares Ganzes der großstädtischen Lebensgestaltung: was in dieser unmittelbar als Dissoziierung erscheint, ist so in Wirklichkeit nur eine ihrer elementaren Sozialisierungsformen.“

Ich möchte hiermit die Berliner Verkehrsbetriebe auffordern, diesen Text in vollständiger Fassung in U-Bahnen und Bussen auszuhängen. (Er würde sich schön neben den Plakaten der Deutschen Bibelgesellschaft machen: „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ Petrus 2, Kap.3,13.) Aber im Ernst: Man kann nicht nachdrücklich genug auf diese Simmelsche Entdeckung hinweisen, deren Gültigkeit jeder Kunde des ÖPNV bezeugen kann. Viele Phänomene, die uns als Symptom der Dissoziierung erscheinen – und die wir unter dem Namen von Anonymität, Kälte, Unpersönlichkeit und dergleichen anprangern – sind trotz hundert Jahren soziologischer Aufklärung immer noch mißverstandene „elementare Sozialisierungsformen“. Simmels Soziologie erprobt Möglichkeiten, über die moderne Welt zu reden, ohne sich einem der beiden mächtigen Lager – Apokalyptiker und Integrierte – zuzuordnen.

Georg Simmel: „Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908“. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 382 Seiten, 24,80 DM

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