piwik no script img

Kürzeste Stunde des Lebens

■ Zentimeter entschieden über den Sieg beim Sechstagerennen in der Stadthalle

Für Herzkranke war das nichts! Der letzte Tag der Bremer Sixdays ist zwar immer spannend, aber was die ZuschauerInnen gestern nacht in der Stadthalle erlebten, war ein Thriller erster Klasse.

Bis zur letzten Sekunde blieb unklar, wer gewinnen würde: Marco Villa und Silvio Martinello, das italienische Team im Weltmeistertrikot, Bruno Risi und Kurt Betschart, die Vorjahressieger aus der Schweiz, oder aber die Dänen mit Doppeleuropameister Jens Veggerby und Jimmy Madsen. Nach sechstägiger Jagd durchs Oval lagen diese Mannschaften rundengleich und nach Punkten so dicht beieinander, daß selbst ausgebuffte Radprofis keine Siegprognose wagten.

Entschieden wurde im Finale. Von Beginn an legten die 22 Fahrer bei der einstündigen Verfolgungsfahrt ein höllisches Tempo vor. Zumal drei weitere Teams nur eine Runde zurücklagen und immer wieder ausbrachen, um den Rückstand aufzuholen. Eine halbe Stunde vor Ablauf der Zeit hatten sie es geschafft, der Delmenhorster und punktbeste Einzelfahrer Carsten Wolf mit Ludwig Wolf, der Belgier De Wilde mit dem Italiener Bincoletto, der für den verletzten Bremer Mitfavoriten Andy Kappes ins Team gestiegen war, Urs Freuler und „Höllenhund“ Danny Clarc, mit 44 Jahren der älteste Fahrer, aber noch immer zu den weltbesten zählend.

Sechs potentielle Siegermannschaften also trieben sich durch die Kurven. Jeder Ausbruch wurde mit einem Nachtreten der „Meute“ gekontert. Erst zehn Minuten vor Schluß zeichnete sich ab, daß nur die Italiener, die Dänen und die Schweizer dieses irrwitzige Tempo würden durchstehen können. Sie lieferten sich einen Endkampf, der selbst die Nerven des Stadionsprechers bloßlegte.

„Schauen Sie, wie Risi fliegt, wie er sich in die Kurve legt!“, überschlug sich seine Stimme. „Wird er den Dänen einholen?“ Nein, diese Punktwertung ging an Madsen. Doch es blieben noch einige Minuten und damit für alle die Möglichkeit, Punkte oder gar eine Runde herauszufahren. „Wo nehmen die Burschen nur diese Kraft her“, bellte der Sprecher eine Frage ins Mikro, die sich wohl alle ZuschauerInnen stellten.

Die Halle tobte. Die Leute erhoben sich aus ihren Sitzen und „schoben mit“. „Und da gehen sie in die letzte Runde“, feuerte der Sprecher an. Ein weißes, gelbes und schwarzes Trikot lösten sich erneut aus dem Feld. Tiefgebückt die Italiener, gefolgt von den Schweizern und Dänen. Könnte Sprinterkönig Risi den Italiener abfangen? Unter riesigen Beifallsstürmen holte er Zentimeter um Zentimeter auf. Umsonst, Italien gewann, mit reifenbreitem Vorsprung.

„Das war die kürzeste Stunde meines Lebens“, entfährt es einer Zuschauerin, die zum ersten Mal bei den Sixdays dabei war. „Wahnsinn“, kommentiert ihr Begleiter das Geschehen. Ein alter Herr, 85 Jahre alt und zu 90 Prozent schwerbehindert, wie er ungefragt erklärt, ist auch ganz aus dem Häuschen. „Das muß man gesehen haben“, meint er, „was diese Teufelskerle leisten, ist enorm.“

Tatsächlich ist die Million, die für Prämien und Gagen der Fahrer ausgeschüttet wurden, hart verdient. Diese Radprofis schaffen es, selbst den wuchtig-blöden Werbeblöcken, die pausenlos aggressiv aus dem Mikro oder von den Wänden poltern, die Aufmerksamkeit zu stehlen. Gestern war jedes Rennen so spannend, daß selbst unsportliche Menschen es vorzogen, dabeizusein, anstatt sich beim bierseligen Show-Programm der Halle V zu vergnügen.

Während dort noch bis zum frühen Morgen gezecht und gefeiert wurde, ging es im Pressezentrum eher nüchtern zu. Blitzschnell werden die Endergebnisse und Bilanzen der 32. Sixdays zusammengestellt: Erster Sieg eines italienischen Teams bei den Bremer Sixdays. 124.800 BesucherInnen (neuer Rekord) konsumierten an 32 Getränkeständen und Tresen 300.000 Gläser Bier, 60.000 Gläser Sekt, und verputzten, – die Bratwurtsstatistik lag noch nicht vor –, täglich einen Ochsen. dah

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen