Thailand bezahlt für den Regen

■ November 1995: Ein Land versinkt in den Regenfluten. Tempel, Geschäfte und Wohnhäuser stehen in Thailand unter Wasser. Woher Hoffnung schöpfen? Die nächste Naturkatastrophe kommt bestimmt.

Tran ist ein zufriedener Mensch – eigentlich. Er hat sein Auskommen, die Familie wird satt. Tran betreibt einen kleinen Imbiß im Herzen von Bangkok, ein paar roh gezimmerte Tische nur, aber dafür direkt am Fluß, wo Tag für Tag Dutzende erbärmlich knatternder Long Boats auf ihren Linien den stinkenden Fluß entlang Halt machen und Touristen ausspucken. Eine gute Lage für einen kleinen Imbiß; der Wat Po, berühmtester buddhistischer Tempel Bangkoks, liegt nur einen Steinwurf hinter Trans Haus. Gleich ein ganzer Sack von Gründen, zufrieden zu sein – eigentlich.

Aber davon ist Tran weit entfernt. Mürrisch steht er in seiner Küche, die Hosen bis über die Knie aufgekrempelt, und betrachtet das Ausmaß der Heimsuchung, die seit Wochen über ihn und seine Nachbarn gekommen ist, und mit ihnen über ein gutes Drittel der Hauptstadtbevölkerung und über ein Gutteil des Landes. Lord Buddha, hilf! Das große Wasser will uns ruinieren!

November 1995: Seit Wochen stehen größere Teile Bangkoks unter Wasser, das Leben am Fluß richtet sich ganz nach der Tide, die zweimal am Tag Anleger und Garküchen, Schlafstellen und Krämerläden überflutet. Der Norden des Landes hat sich in ein morastiges Sumpfgebiet verwandelt, das aus der Luft wie ein einziges großes Reis-Anbaugebiet ausnimmt – dummerweise aber auch da, wo sonst kein Reis wächst.

Der Südosten erlebt einen wilden Monsun. Anfang des Monats ist in der Rauhen See eine Touristen-Fähre zur Ferieninsel Koh Samui gekentert, zwei Tote. Die Bahnstrecke vom Süden herauf nach Bangkok ist seit Tagen gesperrt, weil die Wassermassen die Gleise unterspült haben. Auf einigen Landstraßen steht das brackige Wasser einen Meter hoch. Und der Südwesten, eigentlich ein sicheres Sonnengebiet um diese Jahreszeit, bleibt auch nicht verschont. Immer wieder peitscht der Wind die Monsunwolken von der Ostküste herüber. Anfang November hatte wenigstens noch bis zum Nachmittag die Sonne geschienen, doch seit dem 15. regnet es fast ununterbrochen.

Das Grau hängt tief, pladdernde Wolkenbrüche wechseln sich mit dichtem Nieselregen ab. Segelboote liegen in den Buchten fest, zum Schutz vor der unberechenbaren See, die in den geschützten Regionen harmlos an den Strand leckt, weiter draußen aber urplötzlich gefährliche Brecher aufwirft.

Kurzum, ein Wetter zum Davonlaufen, freilich nur für die, die davonlaufen können. Wenn nicht der begierige touristische Blick in die Bangkok Post an jeden Morgen die gleichen frustierenden Nachrichten fördern würde: Regen, überall Regen. Selbst im entfernten Indonesien, und im angrenzenden Malaysia sowieso.

All das interessiert Tran aus Bangkok weniger. Er steht bis über die Waden in der braunen Brühe, die der Fluß wieder einmal ins Haus gedrückt hat, und wartet auf das nächste Boot. Das kommt unter ohrenbetäubendem Getöse, eine dicke, schwarze Wolke aus Dieselruß in die ohnehin hoffnungslos verpestete Hauptstadtluft blasend, gegen die Strömung herangeknattert. Und nun scheiden sich die Ankömmlinge. Die Thais und die erfahrenen Touristen krempeln mutig die Hosenbeine hoch, raffen ihre Röcke und waten, die Sandalen in der Hand baumelnd, vorsichtig über die glitschigen Planken, balancieren über wacklige Stege, die sich doch als zu flach für das Hochwasser erwiesen haben, überqueren die überflutete Uferstraße, durch die sich hochbeinige Busse und knatternde dreirädrige Tuk-Tuks pflügen – geschafft. Der Tempel ist erreicht, die Sandsäcke vor den Toren sind kein Hindernis mehr.

Da aber stehen immer noch ein paar unschlüssige Neutouristen auf dem schwankenden Anlegerponton und starren abwechselnd auf die trübe Brühe vor ihnen und das allzu kostbare Schuhwerk unter ihnen. Das ist das Signal für Trans Auftritt. Nicht daß er besondere Begeisterung aufbrächte – immer noch blickt er mürrisch – aber nun schiebt er seinen massigen Leib nach vorne, patscht hinüber zum Ponton, und schnaufend nimmt er eine quietschende Schweizerin huckepack und schleppt ihren dicklichen Leib ins Trockene. Daß er sich nicht so beeilen soll, das hat er nicht gehört oder nicht verstanden – wahrscheinlich nicht verstehen wollen. Wer bleibt schon gerne mit einer Zweizentnerlast im Modder stehen, nur weil der Kurti auf dem Ponton die Videokamera noch nicht klar hat.

Die thailändischen Leiden sind hausgemacht. Sicher ist das Novemberwetter schlechter als in den meisten Jahren zuvor, aber tägliche Wasserstandsmeldungen aus den nördlichen Stadtteilen, das hat es noch nicht gegeben. Thailand bezahlt für seinen wirtschaftlichen Boom, bezahlt für die Abholzung der Regenwälder, die nun die Wolkenbrüche nicht mehr halten können, bezahlt für die wilde Besiedelung von Flächen, die noch vor Jahren die schlimmste Nässe hatten aufsaugen können.

Schon denkt die Regierung in Bangkok darüber nach, tausenden von Siedlern und Pächtern im Nordwesten ihr Land wieder abzukaufen. Die Erschliessung hatte die Drainage im Erdreich so blockiert, daß sich das Wasser, das zuvor in die Flüsse und Kanäle abfließen konnte, nun in flachen Seen staut, in denen sich der graue Himmel erdig braun spiegelt.

Eine Katastrophe für die Landbevölkerung, deren fruchtbare Böden nun überflutet sind, an Pflanzen und Ernten ist nicht zu denken. Allein in der Provinz Phattalung stehen nach fünf Tagen Dauerregen zehn Distrikte gut ein bis zwei Meter unter Wasser. 40.000 Haushalte sind von der Flut betroffen, 60.000 Rai Anbaugebiet können nicht mehr abgeerntet werden, 297 Straßen sind beschädigt. Ganz zu schweigen von den überschwemmten Krokodilfarmen, aus denen ganze Heerscharen von Reptilien ausgebüxt sind. Und eine Katastrophe für die Stadtbevölkerung, die im Norden Bangkoks auf flachen Booten zwischen den Häusern hin- und herstaken. Eine Katastrophe für die Menschen am Fluß, für Tran und seine Nachbarn.

Die aufgeschichteten Sandsäcke vor den Türen haben das Wasser nicht aufhalten können. Einige ganz Gewitzte haben die Haustüre kniehoch mit dünnen Halbsteinen zugemauert. Aber auch hier stößt der Pumpenschlauch einen Schwall Wasser nach dem anderen ins Freie.

Drinnen ein Bild des Jammers. Immer höher werden Sandsäcke, Steine, Autoreifen aufgetürmt, um die spärlichen Einrichtungen und die Vorräte halbwegs trocken zu halten. Säcke voller Mehl und Reis thronen auf schwankenden hölzernen Gestellen. Eine alte Frau sitzt auf einem hohen Hocker, die Füße angezogen, wiegt auf einem wackeligen Tischchen klumpigen Zucker ab, während der Kunde geduldig auf einer dünnen Planke balanciert, die die Alte vom Anlegesteg bis zu ihrem Laden gelegt hat. Der steht fast kniehoch unter Wasser. Ein paar Meter weiter stehen drei aus dem Millionenschwarm der Bangkoker Moped- und Mottorradfahrer und nutzen die direkte Zufahrt zum Wasser auf ihre ganz eigene Weise: Dicker Seifenschaum flockt von Tank und Auspuff.

Mittlerweile hat sich die Lage entspannt. Im Norden hat der Regen aufgehört, in Bangkok ist der Pegel ab Ende November stetig gefallen. Dafür ist er im Süden wieder angestiegen. Die täglichen Meldungen von der nassen Front sind aus den Zeitungen schon verschwunden, als die Flußanrainer noch immer nasse Füße hatten. Dabei hatte sich in diese Debatte sogar der König eingemischt – ungewöhnlich, für thailändische Verhältnisse fast eine Sensation. Einer seiner Vorschläge: Das Wasser solle nicht einfach wieder versickern, sondern für die trockene Zeit in Auffangbecken gesammelt werden. Die nächste Naturkatastrophe kommt bestimmt. Thailand bezahlt. J.G.