piwik no script img

■ Sie trauern um die Toten und fragen nach den Schuldigen - nach der Brandkatastrophe von Lübeck sind die Überlebenden eher verstört als kämpferisch"Weißt du, wer das war, der sie verbrannt hat?"

„Weißt du, wer das war, der sie verbrannt hat?“

Mia ist gestorben“, sagt Paula. Ganz beiläufig murmelt sie es vor sich hin. Dann hebt sie den Kopf mit den winzigen Zöpfen und mustert ihre Freundin Laura. Plötzlich kreischt sie los: „Das ist meins!“ Mit erhobenen Fäusten stürzt sie auf die Freundin los und grabscht nach einer blauen Feder in deren Händen. „Paula, hör auf! Laß los!“ Aber Paula hat die Feder bereits ergattert. Triumphierend steckt sie die Trophäe hinter ihr buntbemaltes Stirnband aus Papier und grinst frech. Großtat einer Siebenjährigen.

Mittwoch abend war Paula ganz normal eingeschlafen. So gegen acht. Am nächsten Morgen wollte sie wie üblich zur Schule, sie geht in die erste Klasse. Mitten in der Nacht riß ihr Vater sie aus den Kissen, lief mit ihr aus dem Zimmer. Im Treppenflur war es brütend heiß, es stank beißend nach Rauch. Der Vater rannte zur Haustür, Paulas Mutter hinterher. Sie stieß sich den Kopf an einer Mauerkante, dann waren die drei draußen. Der Weg war nicht weit, die Familie aus Zaire wohnte im Parterre. Dort war das Feuer noch nicht hingekommen.

Doch der erste und der zweite Stock brannten bereits lichterloh, auch aus dem Dachgeschoß schlugen die Flammen. Einige Stunden später war das, was seit vier Jahren Paulas Zuhause war, nur noch ein rauchendes Gerippe. Das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße 52 – verkohlt, ausgebrannt.

Seit 1986 hat das Diakonische Werk in der ehemaligen Kneipe im Stadthafen Asylbewerber untergebracht und betreut. Über 50 Menschen schliefen Mittwoch nacht in dem Heim. Mehrere Familien aus Schwarzafrika, zwei aus dem Libanon. Auch Gäste waren im Haus. Mehr als vierzig Menschen wurden verletzt, zehn hat das Feuer getötet. Vier Kinder sind darunter.

„Mia ist tot“, sagt Paula, „und Christelle und Christine.“ – „Sie sind schwarz geworden, weil Feuer war“, ergänzt Laura. Dann runzelt die Neunjährige angestrengt die Stirn. „Weißt du, wer das war, der sie verbrennt hat? Das waren die Nazis!“ Kaum hat sie diesen Verdacht verkündet, muß sie sich ihrer Haut wehren. Paula gibt ihrer jugoslawischen Freundin einen kräftigen Stoß um sie vom Sessel zu schubsen. Lautes Geschrei.

Die zehn, fünfzehn Kinder, die hier in der Eingangshalle des Asylheims in der Lübecker Rabenstraße toben, sind außer Rand und Band. Verstört, aufgekratzt, auch wenn die meisten zu klein sind, um die Tragödie der vergangenen Nacht zu begreifen. Einige Erwachsene sitzen zwischen den Kleinen. Kaum einer redet, sie starren vor sich hin. Die meisten sind SchwarzafrikanerInnen. Überlebende und unverletzte Bewohner der Hafenstraße, aber auch Verwandte und Freunde, die aus ganz Schleswig-Holstein angereist sind. Plötzlich ein Schrei aus dem Treppenhaus: „Landu! Sie war meine Freundin.“ Eine Frau weint laut.

Von draußen kommt eine Gruppe Schwarzer herein. Mit Transparenten in den Händen. Ein paar Frauen sind darunter. Ihre Augen sind rot und verschwollen. Die Gruppe kommt von einer spontanen Demonstration vor dem Rathaus der Stadt und dem Polizeipräsidium. Doch niemand blickt kämpferisch. Still hocken sich die Ankömmlinge in die Eingangshalle oder ins Treppenhaus. Sie warten. Heute abend und die ganze Nacht wollen sie mit den Angehörigen der Opfer trauern. Im Keller des Flüchtlingsheims ist ein kleiner Saal, da werden sie wachen.

Bis dahin erwarten sie auch Jean-Daniele Makudela zurück. Er lebte mit seiner Frau Landu und fünf Kindern in der Hafenstraße. Oben im zweiten Stock, wo das Feuer nur bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen zurückließ. Als der Brand ausbrach war Makudela bei Verwandten in München. Jetzt ist er auf dem Weg nach Hause. Daß seine Frau tot ist, haben ihm seine Freunde am Telefon gesagt. Doch noch weiß er nichts von den Kindern.

Der Lübecker Bürgermeister hat für diesen Nachmittag zu einer Kundgebung aufgerufen. Vor dem verbrannten Haus. Kurz vor fünf macht sich die schwarzafrikanische Gemeinde dahin auf. Paulas Vater steckt seine Tochter in eine riesige Lederjacke. Sie darf mit.

In der Hafenstraße ist bereits ein kleines Podium aufgebaut, Blumenkränze liegen da, die SchwarzafrikanerInnen stellen brennende Kerzen davor. Polizisten haben eine Bannmeile um die freistehende Nr. 52 gelegt. Noch immer qualmt es aus den schwarzen Fensterhöhlen. Von oben versucht die Feuerwehr das Dach abzutragen. Anders kommt man nicht in das Haus hinein. Niemand weiß, ob im Dachgeschoß nicht noch Tote unter dem eingestürzten Gebälk liegen.

Mehr als tausend LübeckerInnen haben sich in der grauen Kälte zur Kundgebung aufgemacht. Eine junge schwarze Frau läuft weinend vor ihnen auf und ab: „Deutschland ist so Scheiße, eh!“ schreit sie und schüttelt die Fäuste. „Solange es Ausländer gibt, gibt es in Deutschland keinen Frieden.“ Die LübeckerInnen schweigen und blicken zu Boden. Dann kommt der Bürgermeister.

„Wir verneigen uns vor den Opfern dieser Nacht“, sagt Michael Bouteiller. „Wir wissen nicht, ob es ein Anschlag war ...“ Weiter kommt er nicht. „Nein, nein, nein!“ schallt ihm ein Sprechchor der schwarzen Gemeinde entgegen. Kein Afrikaner hier glaubt an ein Unglück. Und nur wenige der anwesenden LübeckerInnen. „Laßt uns den faschistischen Terror bekämpfen“, verkündet eines der mitgebrachten Transparente.

Bürgermeister Bouteiller redet kurz und aufgeregt. Das Ausländergesetz geißelt der SPD-Mann als „unmenschlich“, und dann verspricht er den Bewohnern der Hafenstraße Wohnungen außerhalb von Flüchtlingsheimen, über die Stadt verteilt, in ganz normalen Lübecker Häusern. Zu der Zeit ist Paula an der Hand ihres Vaters beinahe im Stehen eingeschlafen.

Benommen von der Kälte kehren die Schwarzafrikaner in die Rabenstraße zurück. Unten im Kellersaal ist bereits alles vorbereitet. Teller mit belegten Broten stehen da, Getränke, der Cassettenrekorder spielt afrikanische Musik. An die zwanzig Frauen hocken in der hinteren Hälte des Raumes, auf Matten und Matrazen, die kleineren Kindern wuseln um sie herum, doch die Mütter blicken kaum auf. „Sie war meine Freundin“, jammert eine Frau mit schwarzem Turban, „sie war meine Freundin, und wir waren immer zusammen.“ Sie ringt die Hände, Tränen laufen über ihr Gesicht.

Die Männer kommen herein, doch sie mischen sich nicht unter die Frauen. Mit unbewegten Gesichtern nehmen sie auf Stühlen an der entgegengesetzten Seite des Raumes Platz, reden gedämpft, rauchen. Auf ihrer Seite des Saales gibt es keine Ausbrüche, keine Tränen. Die Männer leiden stoisch.

„Ich hab tief geschlafen“, erzählt Joao Munga, „als meine Frau plötzlich anfing zu schreien: Feuer! Ich hab versucht, die Tür aufzureißen, doch vom Treppenhaus schlug mit nur Qualm entgegen. Und dann ist meine Frau mit dem einen Kind zum Fenster gelaufen. Ich konnte sie nicht halten. Sie ist einfach rausgesprungen, obwohl es doch das Dachgeschoß war.“ Joao Munga wurde mit zwei seiner Töchter von der Feuerwehr gerettet. Doch das dritte Kind und seine Frau starben durch den Sprung.

Vor sechs Jahren kam die Familie aus Zaire nach Deutschland. Mutter und Tochter werden als Tote zurückkehren. Die Leichen werden überführt, so will es der Brauch. „Ich habe keinen Haß auf Deutsche“, sagt Munga, „ich weiß ja auch gar nicht, ob die Deutschen mich hassen und an unserem Unglück schuld sind. Meine Tochter war sieben Jahre. Sie hatte viele deutsche Freundinnen in der Schule.“

Keiner der Flüchtlinge aus der Hafenstraße behauptet, daß ihnen ihre deutsche Umgebung feindlich gesinnt war. „Wenn es denn ein Anschlag war, dann hätten wir zuallerletzt dort damit gerechnet“, bestätigt auch Pfarrer Iver Rinsche. „Es gab sehr viele Kontkate zu den Nachbarn und zu den Schulen in der Umgebung.“ Rinsche kümmert sich beim Diakonischen Werk um die Flüchtlingsheime. Heute abend ist auch er in die Rabenstraße zur Trauerfeier gekommen.

Doch eine Feier nach seinen Maßstäben wird es nicht geben. Kein Trauerritual, keine Gesänge und auch keine Ansprachen. Nur dieses Beisammensitzen im grellen, kalten Neonlicht des Saales in der Rabenstraße, halb wachend, halb schlafend. Die ganze Nacht. Paula ist nicht mehr dabei. Sie schläft bei Freunden der Familie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen