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Freßquickie im kulinarischen Erlebnisraum

■ Grüne Woche: Unterm Funkturm geht es um die virtuell inszenierte Stadtflucht und die heile Bauernwelt. Am ersten Wochenende schon über 120.000 Besucher

Das lustige Landleben steht wie immer hoch im Kurs: Ferien auf dem Lande in der Prignitz oder in Niederösterreich, Landschinken aus Schleswig-Holstein, ländliche Gasthöfe mit rustikalen Holztischen und herabhängenden Weintrauben. Nur der dazugehörige Landwein ist weit und breit nicht aufzutreiben. Schließlich setzen nicht nur die Erzeuger auf Qualität, sondern auch die Konsumenten: Weit über 100.000 Besucher haben bis zum Sonntag bereits die Stadtflucht angetreten und sich in den 26 Messehallen der 61. Grünen Woche unterm Funkturm gedrängelt.

Was ist das aber für ein Landleben, das da virtuell realisiert wird und das zu schauen die Besuchermassen die unmenschliche Bodenhaltung gerne in Kauf nehmen? Für Marion Weise zählt vor allem das kulinarische Angebot, „eben all das, was man in der Kaufhalle nicht bekommt“: also Maultaschen aus Baden-Württemberg („Den Süden erleben“), Kohlpfanne aus Bremen, Bratwurst aus Thüringen. All das, was die Ställe zwischen Flensburg und Garmisch an Kostbarkeiten zu bieten haben, bietet sich – art- und mundgerecht bereitet – dem gierigen Besucher zum Freßquickie feil. Mit einer Ausnahme freilich: Am Berliner Stand gibt es „Emmzett-Ambiente“ aus dem Kühlregal. Die Spezialitäten der Hauptstadt sucht man vergebens. „Spezialitäten?“ fragt die Bedienung am Stand, zeigt sich ratlos und zählt an einer Hand ab: „Eisbein, Currywurst, Königsberger Klopse.“

Was den einen der kulinarische Erlebnisraum ist, ist den Fachbesuchern der Grünen Woche – sie machen etwa ein Sechstel aus – das Image. Brandenburgs Wirtschaftsminister Edwin Zimmermann (SPD) möchte etwa den Anteil der über seine Landesgrenzen hinaus verkauften Produkte über die mageren sieben Prozent hinaus steigern. Und die Flachserzeuger aus der Prignitz träumen von der Renaissance des Leinens und lassen dafür eigens eine Flachsspinnerin am Spinnrad schuften.

Insgesamt sind es 120 Agrarunternehmen aus Brandenburg, die der mächtigen Konkurrenz aus den Altbundesländern oder dem wenig flexiblen Einkaufsverhalten der großen Handelsketten Paroli bieten wollen. Doppelt so groß ist dagegen die Anzahl der Kühe und Rinder, die sich am Ende der Grünen Woche an der „Miß Kuh“- Ausscheidung beteiligen, die nur noch von einem anderen Wettbewerb übertroffen werden dürfte: der Wahl des erfolgreichsten Jungzüchters.

Weniger anzüglich, sondern ganz genüßlich geht es hingegen an den internationalen Ständen zu. In Griechenland gibt es Retsina und Bauernsalat, in Rußland zehn verschiedene Wodkasorten, aus dem Iran Pistazien und am Stand der Türkei zwei Polizisten. Und am spanischen Stand locken wie in Wirklichkeit zahlreiche Anreißer zum Verweilen in den hübschen Weinstuben.

Daß das virtuelle Land- und Urlaubsleben mitunter unterbrochen wird, ist einzig der Architektur der Messehallen geschuldet. Insbesondere an den Übergängen zwischen den Messegebäuden hält sich mit penetranter Standhaftigkeit das Aroma der Metropole. Dort nämlich haben die zahlreichen messeeigenen Imbißbuden ihren Platz. Doch was auf der ITB recht ist, muß auf der Freßschau Grüne Woche ein billiges und kümmerliches Dasein führen. Nur ein paar notorische Städter stehen am Ende um die neonbeleuchteten Resopaltische, kauen Bockwurst und trinken vorausschauend ihr angestammtes Schultheiss. Wenn um 18 Uhr die Messehallen schließen, hat sie der Berliner Alltag ohnehin wieder. Uwe Rada

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