: Durchschnittliche Arbeiterklasse-Cyborgs
■ Zur Amsterdamer „Next 5 Minutes“-Konferenz überzeugte ein Medium: Video
Die BesucherInnen waren auf Einladung der „Gesellschaft für alte und neue Medien“ nach Amsterdam gekommen. Und auch die Schwerpunkte der Konferenz „Next 5 Minutes“ lagen auf beiden Seiten der Zeitskala: Wie sieht die Zukunft der alten und neuen Medien aus? Vor allem ging es um die Frage, wie man Medien generell für die eigenen politischen Ziele nutzen kann. „Links“ würde diese Ziele zwar heute niemand mehr nennen, darum lautete der Untertitel von „Next 5 Minutes“ auch „Konferenz für taktische Medien“. Aber auch für die Linke kann es taktisch klug sein, von den Medien etwas Besseres zu verlangen als das, was Medienkonzerne wie Bertelsmann, Time Warner, Microsoft und Co. liefern.
Als „ontologisches Niemandsland“ beschrieb der amerikanische Anarchist Mark Dery in seiner Eröffnungsansprache die gegenwärtige Medienszene. Zwar erfüllten die neuesten „Neuen Medien“ exakt die traditionellen Anforderungen der Linken: Der Konsument wird zum Produzenten. Im Internet kann potentiell jeder User kommunizieren und publizieren. Zur Zeit habe aber weltweit nur jeder dritte Haushalt überhaupt einen Telefonanschluß, vom Internet-Zugang ganz zu schweigen. Tatsächlich ist es eine eher kleine Elite von westlichen Intellektuellen, die sich im Cyberspace bewegt. Die „Offline-Klasse“ ist dieser wachsenden „virtuellen Klasse“ (Dery) gegenüber in einem ständig dramatischer werdenden Nachteil. Auch die utopischen Vorstellungen von technischen Erweiterungen des menschlichen Körpers, die Donna Haraway in ihrem Buch „Cyborg-Manifesto“ beschreibt, seien nur technokratische Erlösungsphantasien. Peter Lamborn Wilson vom New Yorker Künstlerkollektiv Autonomedia vermutete hinter den Vorstellungen von Cyborgs, die halb Mensch, halb Maschine sind, sogar eine Rückkehr von religiösen Transzendenzphantasien: „Das ist das christliche Jenseits, das Technologie geworden ist.“
„Es gibt keine automatischen Utopien“ – in diesem Punkt stimmte auch Rob Gonggrijp seinem Vorredner zu. Der Amsterdamer hat zwar das erfolgreiche XS4All-Projekt gegründet und damit mehr Niederländer „ans Netz“ gebracht als irgendein kommerzieller Online-Dienst. Aber obwohl er findet, daß man „so vielen Menschen wie möglich Zugang zum Internet“ verschaffen muß, sind bei XS4All zur Zeit nur fünf Prozent der UserInnen Frauen. Vom „universalen Medium“ kann daher keine Rede sein. Bis auf weiteres ist der Cyberspace ein Abenteuerspielplatz für Jungs.
Bei der ersten „Next 5 Minutes“, die vor drei Jahren im Amsterdam stattfand, ging es vor allem um politische Gruppen, die mit Video und Radio arbeiteten. Vom Internet sprach bei diesem Treffen noch niemand. In den drei Jahren, die seither vergangen sind, hat das weltweite Computernetzwerk die Medienwelt freilich vollkommen umgekrempelt. 1996 gelten Radio und Video plötzlich als „Alte Medien“. Die Aktivisten aus den USA und Europa, die diesmal nach Amsterdam gekommen waren, um ihre Arbeit vorzustellen, waren zum größten Teil im Internet aktiv. Ein wenig hilflos strich der aus Indien angereiste Filmemacher Satuajit Sarkar angesichts der Online-Kommunikation die Segel: „Hier fühle ich mich so hilflos wie die indischen Kids, die zum ersten Mal eine Kamera sehen.“
Dabei ist High- Tech nicht unbedingt nötig, um Medien auf emanzipatorische Weise zu nutzen: Die ebenfalls indische Video-Macherin Sharad Argwal hat mit ihrer Arbeit geradezu eine Definition von taktischer Mediennutzung geliefert, obwohl sie nur mit einer Videokamera und zwei Rekordern als Schnittplatz arbeitet: In einem Ghetto-Vorort von Neu- Delhi sollte sie einen Film darüber drehen, warum die Mädchen dieses Viertels nicht zur Schule gingen. Sie fand heraus, daß die Mütter der Mädchen ihnen den Schulbesuch verboten. Mit der Videokamera interviewte sie die Mütter. Die meisten Frauen sagten, daß sie ihre Töchter gerne zur Schule schicken würden, wenn das ihre Männer erlauben würden. Als die Männer interviewt wurden, leugneten diese ihr Verbot. Die widersprüchlichen Videos wurden öffentlich vorgeführt. Seither fehlen die Mädchen nicht mehr in der Schule.
Auch die brasilianische Videogruppe Caetanno Scannavio führt ihre Videos öffentlich vor. Wenn die Filme, die die Gruppe zusammen mit GhettobewohnerInnen dreht, in einem Reisebus in den Barrios von São Paulo gezeigt werden, herrscht dort volksfestartige Atmosphäre. In den brasilianischen Elendsvierteln ist es fast unmöglich, ohne Auto von einem Quartier zum anderen zu kommen. Videos aus der Nachbarschaft werden darum fast wie Lokalnachrichten betrachtet. Doch gern gesehen werden solche Aktivitäten längst nicht in allen Ländern der Welt: In Korea, dem Land der Samsung-Videorekorder, sind öffentliche Vorführungen von Privatvideos sogar streng verboten. Die koreanischen Videoaktivisten, die nach Amsterdam gekommen waren, rechnen in ihrem Heimatland darum jederzeit mit ihrer Verhaftung.
Aber auch im Westen kann die Arbeit mit Video immer noch für politischen Wirbel sorgen: DeeDee Halleck von der New Yorker Videogruppe Papertiger TV demonstrierte das am Beispiel des Videos „Zones für Slavery“. Der Film dokumentiert, wie die amerikanische Klamottenfirma GAP in El Salvador Kinder zu Hungerlöhnen Jeans nähen läßt. GAP, eine Art US-Benetton, wurde in mehreren amerikanischen Städten boykottiert, nachdem der Film in High-Schools gezeigt worden war, und die Umsätze des Kleiderkonzerns sanken.
Im Vergleich zu einer solchen politischen Erfolgsbilanz nahmen sich die meisten Netzprojekte, die in Amsterdam präsentiert wurden, eher bescheiden aus. In puncto taktische Effizienz von Medien gewannen die „alten“ Neuen Medien wie Video im Vergleich zu dem „neuen“ Neuen Medium Internet. „Der durchschnittliche Arbeiterklasse-Cyborg“ (Mark Dery) ist zur Zeit noch nicht online, die Kommunikation im Cyberspace wird nur von einer Elite geführt. Entsprechend wird die Gilde der Medienaktivisten in den nächsten Monaten mit Gegenreaktionen rechnen müssen.
Ein Workshop zu „Next 5 Minutes“ beschäftigte sich bereits – vorausschauenderweise? – mit Low- End-Technologie: Statt allein auf High-Tech-Equipment zu setzen, kann man selbst Aufziehradios und schrottreife Computer noch als Medium benutzen. Es kommt auf die Ideen an. Tilman Baumgärtel
Siehe auch die Reportage auf S. 11
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