: Wildes Tanzen, Sichanfassen und Loslassen
■ Man denkt an Kafka und die Zukunft: „Korridor“, ein Film von Sarunas Bartas
Es gebe englische Untertitel, hieß es am Anfang. Doch die ersten englischen Worte, die auf der Leinwand erschienen, gehörten schon zum Abspann: „Thanks to...“ Gab sich der stille 31jährige litauische Regisseur in seinem letzten wunderschönen Film „Drei Tage“ noch wortkarg, so ist er jetzt fast völlig verstummt. Eine Stunde lang spricht in „Koridorius“ niemand. Danach wehen zumindest ein paar Wortfetzen vorbei, allerdings auf Litauisch, Russisch und in einer Romasprache.
Stille Schwarzweißaufnahmen von Vilnius reihen sich aneinander. Dann ein Mietshaus. Ein Mann um die 40 blickt traurig aus dem Fenster, ein junger Mann liegt im Anorak auf einer alten Matratze und raucht (Bartas, diesmal auch als Schauspieler), ein kleiner blonder Junge mit dunkelschönen Augen trinkt Wein aus staubigen alten Flaschen. Eine junge Frau betrachtet sich im Spiegel. Der kleine Junge zündet im Hinterhof Bettlaken an. Im Hintergrund hört man ein jüdisches Lied.
Worte sind hier unwichtig. Es passiert auch nichts. In diesem Nichtpassieren denkt man an vergangene und kommende Jahre und daß das anders werden soll, und an andere Meister melancholischen Erklärungsverzichts: Béla Tarr, Tarkowskij oder den jungen moldawischen Filmemacher Artur Aristakisjan, dessen seltsamer Film „Ladoni“ vor zwei Jahren ein paar Preise gewann. Oder an Kafka: „In der abendlichen Sonne /sitzen wir gebückten Rückens / auf den Bänken, in dem Grünen / Unsre Arme hängen nieder / unsre Augen blicken traurig.“
Das Haus, in dem die Protagonisten fast starr vor Trauer leben, ist verwüstet, verdreckt, trostlos. Draußen wird der kleine Junge von zwei jungen Männern in Lederjacken immer wieder in einen schmutzigen Tümpel gestoßen; warum, weshalb? Zwischendurch sieht man eine Demonstration über eine Brücke ziehen. Wogegen oder wofür die Leute demonstrieren, erfährt man nicht. Im letzten Drittel des Films bevölkert sich das alte Haus. Vom Leben gezeichnete oder einfach nur schöne Gesichter und Gestalten feiern und trinken im Korridor und in der Küche. Eine Handkamera beobachtet das alles: wildes Tanzen, Sichanfassen und Wieder-Loslassen, betrunkene Gesichter, einen Bärtigen, der eine kleine Ewigkeit lang versucht, Gläser auf einer umgedrehten Wodkaflasche zu balancieren, ein junges Mädchen, das nackt in einem anderen Zimmer auf dem Bett sitzt, einen Hageren, der zunächst ein imaginäres Orchester dirigiert, später mit bloßem Oberkörper tanzt, dann betrunken die Öffnungen seines Hemdes durcheinanderbringt. Am nächsten Morgen zieht Nebel durch die verlassenen Räume. Schnee liegt auf den Dächern von Vilnius.
Bei der Premiere im „Panorama“-Programm der letztjährigen Berlinale waren einige Zuschauer wütend, weil nichts geschehen ist; andere verteidigten mit bebender Stimme den schüchternen Filmemacher, der sich für die Vorführung eine Eintrittskarte gekauft und später allen Fragen verweigert hatte. Ob es Arme oder Bohemiens seien, die in dem Haus wohnten? – „Ja.“ Ob er von Tarkowskij beeinflußt sei. „Ich liebe seine Filme. Aber es hat keine Bedeutung.“ „Es gibt keine Symbolik“, sagte Bartas. Der Film repräsentiere nichts.
Trauer sei sein Lieblingsgefühl, hatte der still-melancholische Regisseur schon vor drei Jahren gesagt. Und es sei sehr wichtig für ihn, nichts zu erklären. „Das Wichtigste ist, die Zuschauer etwas fühlen zu lassen. Wenn du fühlst, brauchst du keine Erklärungen. Du fühlst. Das ist alles. Wenn du nicht hungrig bist, kannst du kaum nachfühlen, was es heißt, hungrig zu sein. Du mußt dazu hungrig sein. Dann verschwinden alle Fragen.“ Detlef Kuhlbrodt
„Korridor“ von Sarunas Bartas, Litauen/Deutschland 1994, ab heute, 21 Uhr, fsk2, Segitzdamm 2
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