: Bei der ÖTV bröckelt der Beton
Kurz vor der Neuwahl der Bezirksleitung schlägt ÖTV-Chef Kurt Lange Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich für Landesbedienstete vor, die mehr als 65.000 Mark jährlich verdienen ■ Von Hannes Koch
Ohne König Kurt ist der Senat ein Nichts. Einsparung von Stellen im öffentlichen Dienst, Privatisierung von Schwimmbädern? Ständig müssen sich die PolitikerInnen mit Kurt Lange, dem Bezirksleiter der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, ins Benehmen setzen. Während anderswo in deutschen Landen die Gewerkschaftsführer bei Kabinett und Kapital zu Kreuze kriechen, hat die Berliner ÖTV gut lachen.
Denn Lange repräsentiert die mit 131.000 Mitgliedern größte und einflußreichste Organisation von ArbeitnehmerInnen der Hauptstadt. Rund 80.000 von ihnen arbeiten im Landesdienst – die Hälfte des Personals, das der Senat insgesamt beschäftigt. Damit hängt auch das Wohl und Wehe der staatlichen Finanzen ganz wesentlich von der Politik der ÖTV ab – machen doch die Personalausgaben mit rund 15 Milliarden Mark knapp 40 Prozent des Landeshaushaltes aus.
Kaum war während der Koalitionsverhandlungen vor einigen Wochen die SPD-Idee durchgesickert, zwecks Geldersparnis die Arbeitszeit und den Lohn der Landesbediensteten um jeweils zehn Prozent zu kürzen, kündigte Kurt Lange „Massendemonstrationen“ seiner Mitglieder an. Der Vorschlag verschwand in der Versenkung. Und die von CDU und SPD vereinbarte Streichung von 17.000 öffentlichen Stellen nennt der ÖTV-Chef abwechselnd „Mumpitz“, „Unsinn“ oder „Quatsch“. Was davon übrigbleibt, werden die kommenden Tarifverhandlungen zeigen. Denn die Gewerkschaft ist streikerprobt: Wenn die Müllwagen der Stadtreinigung Kreuzungen blockieren, liegen die Nerven der Politiker blank.
Allerdings dröhnen die rhetorischen Salven gegenwärtig besonders laut, weil am kommenden Montag die Wahlen für die ÖTV- Bezirksleitung anstehen. Kurt Lange bewirbt sich nach 1987 und 1992 um seine dritte Amtszeit. Da macht sich die Warnung, auf jede Schmälerung des Besitzstandes der Beschäftigten mit Widerstand zu reagieren, besonders gut. Doch hinter der Fassade bröckelt der Beton. War Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich für die ÖTV früher ein Tabu, deutet sich mittlerweile die Akzentverschiebung hin zu einer Politik an, die die Lage der Beschäftigten, der Arbeitslosen und des Landeshaushaltes gleichermaßen berücksichtigt. So hält es Lange jetzt für denkbar, daß ArbeiterInnen und Angestellte mit Jahreslöhnen über 65.000 Mark brutto zehn Prozent weniger arbeiten, aber auch dementsprechend weniger verdienen – Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich für Wohlhabende. Mit einem Teil der ersparten Lohnzahlungen könnte der Landeskasse Linderung, mit dem anderen Teil könnten Arbeitslosen Stellen verschafft werden. Wieviel beides allerdings in konkreten Zahlen bedeutet, will Lange nicht verraten, sondern als Verhandlungsmasse mit in die Tarifgespräche nehmen. Der Gewerkschaftschef nähert sich damit einem Modell, das der FU-Professor Peter Grottian schon seit Jahren propagiert. Dieser allerdings möchte auch die mittleren Gehaltsgruppen bis hinab zu BATIV einbeziehen, wodurch das umzuverteilende Finanzvolumen viel größer würde.
Bleibt abzuwarten, wie die ÖTV-Mitglieder die veränderte Strategie ihres Vorsitzenden honorieren. Bislang wurde ihnen derartiges nicht zugemutet. In der Regel hieß es „Rauf mit den Löhnen!“ Ihren größten Erfolg erzielte die ÖTV unter Langes Führung bei der Anhebung der Ostlöhne auf Westniveau. Diese erfolgt vor allen anderen östlichen Bundesländern schon zum 1. Oktober 1996. Und in bezug auf die Haushaltsprobleme des Landes hatte Kurt Lange immer Vorschläge auf Lager, die Rücksicht auf seine Beschäftigten nahmen. Zuerst sollten Steuerrückstände von Berliner Unternehmen eingetrieben, die Gewerbesteuer sollte erhöht, teure Doppelzuständigkeiten in der Verwaltung sollten beseitigt werden. Die Zeit der ideologisch einfachen Lösungen aber geht jetzt zu Ende.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen