: Alte Götzen im Tempel
■ Die Hamburger Politpostille Spiegel liebt Fritz Vahrenholt und Henning Voscherau. Warum eigentlich, fragt sich verwundert Florian Marten
Minister und Ministerpräsidenten deutscher Länder haben den Spiegel gewöhnlich zu fürchten. Ob Barschel oder Eggert, Griefahn oder Lafontaine, Engholm oder Perschau – wenn Ministerköpfe wackeln, hat nicht selten „das deutsche Nachrichtenmagazin“ die Polit-Guillotine zuvor sorgsam geschmiert. Ganz anders die Lage im Stadtstaat Hamburg.
Gilt es den notariellen Zeigefinger mahnend in den Bonner Nebel zu halten – das Blatt von der Brandstwiete ist Hamburgs SPD-Stadtchef Henning Voscherau nur allzugern dienstbar. In einer ganzen Kette von Interviews und Berichten hat das norddeutsche Königsmördermagazin Voscherau in den vergangenen Monaten zu einer neuen Lichtgestalt aufgebaut: Ein kluges Stadtoberhaupt, welches scharfzüngig und mit unbestechlichem Blick der verworrenen SPD einen Weg zu finanzpolitischer Klarheit und parteipolitischem Profil zu weisen vermag.
Königsmacher Spiegel? Immerhin dürfte die freundliche Berichterstattung Voscheraus Aufstieg zum finanzpolitischen Sprecher der SPD und zum machtpolitisch noch bedeutsameren Job des Vorsitzenden im Vermittlungsausschuß zwischen Bund und Ländern nicht gerade im Weg gestanden haben. Und – egal ob Große Koalition oder Rot-Grün: Wenn die SPD eines vielleicht nicht einmal allzu fernen Tages den Zugriff auf Bundesministerien hat, wird Voscherau sicherlich unter den Kandidaten weit oben stehen.
Gilt es die ozonverwirrte Republik über Müllverbrennung, das Duale System oder die geheimen Wahrheiten moderner Umweltpolitik aufzuklären – der Spiegel leiht Hamburgs Umweltgenossen Fritz Vahrenholt allzugerne seine Spalten. Gemeinhin hat das Magazin für Umweltminister bestenfalls noch milden Spott übrig – der flotte Fritz aber führt schon seit fast zwei Jahren mit verblüffender Regelmäßigkeit die aufklärungsbedürftige Spiegel-Gemeinde durch die Fährnisse heutiger Umweltgefahren.
Den Gipfel erklomm der Wandsbeker Karrierist jetzt in Ausgabe 3/96: Im Tempel des „Spiegel-Essay“, dort, wo normalerweise nur ein Wolf Biermann oder ein Hans Magnus Enzensberger unser Gehirn verklaren dürfen, erklärt uns Fritz Vahrenholt, was es mit dem „Ökochonder“ auf sich hat. Der frischgebackene Umweltvordenker der Nation hat diese geisteskranke Spezies unter den „Geßlerhüten der Ökobetroffenheitsszene“ ausgemacht. Dort, so verrät uns Vahrenholt, tummeln sich Kriti- kaster, die „Chlorchemie, Castor, PVC, Gentechnologie, Transrapid und Müllverbrennungsanlagen“ für gefährlich und abwegig halten, fehlgeleitete Irre in einer tiefen „Bewußtseinskrise“!
Doch noch steht uns, Fritz sei Dank, der rechte Weg offen: „Die Chemie ist der Welt wichtigster Hoffnungsträger. Das Dioxinproblem in Deutschland ist praktisch gelöst. Ohne Gentechnologie haben wir heute schon verloren. Wir brauchen technologische Quantensprünge und unsere hochentwickelten Müllverbrennungsanlagen.“ Freunde, die Zukunft ist machbar! An Transrapid und Müllöfen, Gentechnik und Chemieindustrie kann die Welt genesen – wenn wir denn unsere Technikferne und hypochondrische Umweltangst verlieren: „Wir brauchen selbstbewußte Chemiker, die unser Vertrauen besitzen“.
Vahrenholts öffentlicher Kniefall vor den alten Götzen einer ungebrochenen Technik- und Fortschrittsgläubigkeit, sein Wandel vom Chemiekritiker (“Seveso ist überall“) zum Reagenzglasapologeten (“die Anlagensicherheit in Deutschland ist radikal verbessert worden“) ist genauso bemerkenswert wie der offenkundig mangelnde Wille des Spiegel, seine LeserInnen neben diesen visionär-technokratischen Tagträumen auch mit einem scharfsichtigen Spiegelbild der politischen Realität seiner Heimatstadt zu versorgen.
Dabei lagert in dessen Archiv Story-Stoff genug für eine ganze Hamburger Skandalserie – in den Hauptrollen die Wandsbeker Genossen Vahrenholt & Voscherau, mal solo, mal im Duett: Amigokungelei, Atomstromsubventionen, Diätenfilz, ein einzigartiger Absturz der öffentlichen Finanzen, Müllverbrennungschaos und eine Stadtpolitik in Sachen Umwelt & Infrastruktur, gegenüber der sogar die Politik der Südstaaten Bayern und Baden-Württemberg wie ein tiefgrünes Paradies wirkt.
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