: ICD
■ betr.: „Moratorium für gläsernen Patienten“, taz vom 26. 1. 96
Es geht beim ICD 10 nicht nur um Codes für „abweichendes Verhalten“ und ähnliche Dinge, sondern nach meiner Meinung in der Tendenz um die Diskriminierung einer in Zusammenhängen reflektierenden und handelnden Medizin.
Im Bereich der Psychotherapie ist an die Stelle einer in sich relativ schlüssigen Diagnostik (im ICD 9) ein Sammelsurium von Verhaltensbeschreibungen getreten, die bar jeder inhaltlichen oder psychodynamischen Logik sind. Man kann sich darüber amüsieren, wie blödsinnig sich das alles liest. Aber es ist wichtig zu verstehen, daß sich hinter diesen – übrigens von Psychiatern und nicht von Psychotherapeuten geschriebenen – oberflächlichen Verhaltensbeschreibungen des ICD 10, bewußt oder unbewußt, ein Angriff auf eine Psychotherapie verbirgt, die sich für die Heilung seelischer Probleme und Symptome dem tieferen Verstehen der diesen Problemen zugrundeliegenden Zusammenhänge verpflichtet fühlt.
Den dem neuen ICD zugrundeliegenden Vorstellungen über Gesundheit und Psyche entspricht eine glatte, „störfallorientierte“ Psychotherapie, die schnell, billig und effizient die Symptome wegmachen soll. Und so etwas paßt eben gut in die aktuelle gesellschaftliche und – leider auch – psychopolitische Landschaft. Daß der Mensch bei diesem Spiel nicht mitfunktioniert, wird spätestens dann bei den diese Entwicklung Verantwortenden ankommen, wenn die Kosten für Psychopharmaka, Mehrfachtherapien, stationäre Klinik- oder sonstige Heimaufenthalte u.a.m. die bisherigen Kosten (der Kostenaufwand für Psychotherapie macht insgesamt nicht einmal 0,5 Prozent der Gesamtkosten im Gesundheitsbereich aus!) deutlich hinter sich lassen werden. Dipl.Psych. J. Burkart,
Psychotherapeut,
Psychoanalytiker, Berlin
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