: Schule im Bio-Rhythmus
■ Kreative Pausen: An Hamburgs einzigem Ganztagsgymnasium in St. Georg findet mehr statt als reine Wissensvermittlung Von Patricia Faller
„Sind Sie von der Plattenfirma?“ Neugierig umringen die Mädchen der Juniorband des Gymnasiums Klosterschule in St. Georg die Besucherin. Daß die „nur“ für die taz arbeitet, macht auch nichts. Im Gegenteil: Die zwölfjährige Jawaneh findet das „geil“. Die Band will heute ins allgemeine Beatles-Revival einstimmen mit „A Hard Day's Night“. Mikrophone werden ausgepackt. Jawaneh, Marta und die zwei Jahre ältere Inessa übernehmen den Gesangspart. Die dreizehnjährige Nicole stimmt den Baß, Joceline entlockt dem Keyboard unter Anleitung des Musiklehrers und Bandleaders Rainer Fechner die ersten Töne.
Das klassische Orchester oder den Chor sucht man an der Klosterschule vergebens – an Hamburgs einzigem staatlichen Ganztags-gymnasium geht es etwas rockiger und popiger zu. Kreativität ist angesagt, denn Unterricht an einer Ganztagsschule ist mehr als reine Wissensvermittlung.
Das beginnt bereits bei der Profilbildung. An dem Ganztags-Gymnasium ist Bildende Kunst keine Nebensache, sondern kann in allen Klassenstufen als Schwerpunktfach belegt werden. Auch das
Service Berufsberatung
fächerübergreifende Musiktheater spielt eine große Rolle. Die Stücke werden selbst geschrieben und in Szene gesetzt, und zwar so erfolgreich, daß die bisher sechs Produktionen allesamt bei Schultheater-Festivals zu sehen waren.
Aber auch die interessanteste Schule kann die falsche sein. Weil eine frühzeitige Berufsausbildung besser ist als ein schlecht bestandenes Abitur, so Schulleiter Ruben Herzberg, bietet die Klosterschule seit vier Jahren zusammen mit dem Arbeitsamt eine Schullaufbahnberatung an. „Kaum ein Schüler verläßt unsere Schule, ohne zu wissen, welche Richtung er einschlagen will“, erklärt er stolz.
Den besonderen Reiz des Gymnasiums, das 1872 als Höhere-Töchter-Schule gegründet wurde, macht noch etwas anderes aus. Immerhin bleibt der Großteil der rund 500 Pennäler nachmittags freiwillig in der Schule. Und das, obwohl der reguläre Schultag 45 Minuten länger dauert als an anderen Schulen. Denn der Stundenplan richtet sich nach dem Bio-Rhythmus. Nach der vierten Stunde, wenn die Konzentrationskurve gen Null sinkt, wird ab halb zwölf erst einmal 60 Minuten pausiert – danach, so hat die Erfahrung gelehrt, ist auch in den letzten beiden Stunden ein effektiveres Lernen möglich.
Die Kinder und Jugendlichen sollen spielen, toben, Sport machen, einfach nur quatschen oder mittagessen können. Die Kantine bietet täglich warme Mahlzeiten, davon eine ohne Schweinefleisch. Der zehnjährige Ralf-Peter ißt täglich hier – am liebsten Spaghetti. Denn zu Hause ist keiner, der ihn mittags bekocht. Seine Eltern sind beide berufstätig. Gerade bei solchen Eltern sind Ganztagsschulen sehr beliebt – in bundesweiten Umfragen haben sich gar 40 Prozent aller Eltern für einen Ausbau dieser Schulform ausgesprochen. Daraus wird, zumindest in Hamburg, in diesem Jahr nichts werden: Im Zuge der Sparmaßnahmen bleiben die 27 hansestädtischen Gesamtschulen unter sich, obwohl sich weitere zwölf Schulen bereits mit einem Konzept für den Nachmittagsunterricht bei der Schulbehörde beworben haben.
Was Ralf-Peter am liebsten macht, wenn er bis 16 Uhr in der Schule bleibt, darüber braucht der gebürtige Rostocker nicht lange nachzudenken: „Fußballspielen“, sagt der durch seinen Schal unverkennbare FC Bayern-Fan aus Rothenburgsort. Nessrin, die elfjährige Türkin aus Veddel, hüpft und balgt sich am liebsten auf den dicken, weichen Matten im sogenannten Tobe-Raum. Da ist der Bär los. Ohrenbetäubender Lärm empfängt jeden, der die Tür öffnet. „Was hier so chaotisch wirkt, läuft nach sozialen Regeln ab“, erklärt Sozialpäd-agoge Holger Wachsmuth gelassen. „Daß auch Mädchen beim Tischfußballspiel randürfen, war harte Arbeit.“ Er und ein Teil der 60 LehrerInnen, die die Pausenbetreuung übernommen haben, verstehen sich nicht als Ordnungshüter, sondern als MitspielerInnen.
Vor dreieinhalb Jahren wurde die Freistunde eingeführt und damit auch die Stelle des Sozialpädagogen geschaffen – für Gymnasien ist das eine Besonderheit. Wachsmuth, der auch für die Drogen- und Aidsberatung zuständig ist, sieht sich als Anwalt der SchülerInnen im Schulalltag und bei LehrerInnenkonferenzen. Zu ihm kommen sie mit ihrem Frust und ihren Sorgen nach dem Unterricht. Täglich ist er aber auch in den Klassen und beobachtet die SchülerInnen: Wer ist besonders laut oder wer auffällig still? Hinterher nimmt er sie sich zur Brust.
Alles, was sich nach 14 Uhr in der Klosterschule abspielt, ist freiwillig, abgesehen von einem wöchentlichen Termin, der für gemeinsame Unternehmungen von SchülerInnen und ihren KlassenlehrerInnen reserviert ist: Museumsbesuche, Plätzchenbacken oder Sportturniere sind da sehr beliebt. „Das schafft ein ganz anderes Verhältnis zwischen den Schülern und Lehrern“, weiß Schulleiter Herzberg. Etwa dann, wenn SchülerInnen feststellen, daß der ungeliebte Physiklehrer ein ausgezeichneter Tischtennisspieler ist.
Bangen um's Konzept
Zum Nachmittagsangebot gehören Hausaufgabenbetreuung und Deutsch-Förderstunden für die SchülerInnen aus 30 Nationen. Offene Spielangebote stehen auf dem Programm und sogenannte Neigungskurse – von der Selbstverteidigung für Mädchen über Videokurse, Schülerzeitung und Graffiti bis hin zum „Transatlantischen Klassenzimmer“, bei dem die SchülerInnen via Computer Kontakt aufnehmen zu SchülerInnen in den USA.
Gerade bei den Nachmittagsaktivitäten befürchtet Schulleiter Herzberg Einschränkungen durch die geplanten Lehrerumsetzungen von Gymnasien an andere Schulen: „Wenn wir keine zusätzliche Sozialpädagogenstelle oder wenigstens Praktikanten bekommen, dann kann unser Sozialpädagoge nicht mehr ohne weiteres an Lehrerkonferenzen teilnehmen, Elternbesuche machen oder Einzelgespräche führen.“
Kontraproduktiv wäre eine Stellenreduzierung auch, weil derzeit der Ganztagsbereich ausgebaut wird. Für drei Millionen Mark entsteht bis zum kommenden Schuljahr ein Gebäude mit Spiel- und Ruheräumen, Bibliothek, Werkstatt, Küche und Kantine sowie einem speziellen Mädchenraum. Daß sich die Schülerinnen auch außerhalb dieses besonderen Refugiums durchaus gegen ihre Mitschüler durchsetzen können, beweist die zehnjährige Katharina: Jungs verhauen auf der dicken Tobematte, das macht ihr besonders großen Spaß.
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