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„Einstweilen wird es Mittag“

„Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts mehr muß schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen. (...)

Doppelt verläuft die Zeit in Marienthal, anders den Frauen und anders den Männern. Für die letzteren hat die Stundeneinteilung längst ihren Sinn verloren. Aufstehen – Mittagessen – Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag, die übriggeblieben sind. Zwischendurch vergeht die Zeit, ohne daß man recht weiß, was geschehen ist. Die Zeitverwendungsbogen zeigen das drastisch. So schreibt ein 31jähriger ehemaliger Hilfsarbeiter:

6–7: geschlafen,

7–8: das Kind in die Schule geführt,

8–9: einen Spaziergang zur Bahn,

9–10: zu Hause gewesen,

10–11: an der Ecke des Hauses gestanden,

11–12: gegessen,

12–13: geschlafen,

13–15: nach der Fischa spazieren,

15–16: beim Treer gewesen,

16–17: um die Milch gegangen,

17–18: ich spielte mit dem Kind,

18–19: habe ich das Nachtmahl gegessen,

19–20: bin ich schlafen gegangen.

Es ist immer dasselbe: Nur an wenige ,Ereignisse‘ erinnert sich der Marienthaler Arbeitslose, wenn er den Bogen ausfüllt. Denn was zwischen den drei Orientierungspunkten Aufstehen – Essen – Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun, ist für den Arbeitslosen schwer beschreibbar. Er weiß nur: Einstweilen wird es Mittag. Und wenn er versucht, dieses ,Einstweilen‘ zu beschreiben, dann entstehen die seltsamen Verzeichnungen in dem Zeitbogen: daß Beschäftigungen, die nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben, eine ganze Stunde füllen sollen.“

Aus: Die Arbeitslosen

von Marienthal

„Die Arbeitlosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“ erschien erstmals 1933. Ziel war es, mit den Mitteln moderner Erhebungsmethoden ein Bild von der psychologischen Situation der Arbeitslosen eines Ortes (Marienthal in Niederösterreich) zu gewinnen.

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