: Die Rennpferde des kleinen Mannes
■ Der norddeutsche Taubensportler verbindet Leidenschaft mit Perfektionismus und eckt gleich doppelt an: Ausbeutung der treuherzigen Kreatur, schimpfen Taubenkämpfer, „fliegende Ratten“, lästert es aus der Kulturbehörde Von Heike Haarhoff
Die Erinnerung an seine große Liebe hat Hermann Riege in einen noch größeren Wechselglasrahmen verbannt. Ein Bekannter hatte die fotogene Taube seinerzeit angeschleppt. Sie entpuppte sich als erstklassige Weitstreckenfliegerin – elegant, blitzschnell und ausdauernd zugleich. Mit Maiskorn-Leckerbissen verwöhnte Hermann Riege das gurrende Geschöpf, schickte die Taube auf Auslandsreisen. Immer kehrte sie treu in die Nettelnburger Heimatstube zurück. Doch dann verweigerte sie den ersehnten Nachwuchs: „Die hat sich immer nur mit Weibchen gepaart. Dann legte sie Eier, aber die waren natürlich nicht befruchtet.“ Mit einer offensichtlich homosexuellen Brieftaube war der Züchter schlichtweg überfordert: „Ich konnte das nicht mitansehen. Da habe ich sie weggegeben.“
Längst ist dem inzwischen 57jährigen der Name der Taube entfallen. Doch die „Nummer-600-sowieso-muß-das-gewesen-sein“ im hellgrau-glänzend bis grünlich-weißen Gefieder hat bis heute einen Ehrenplatz in seinem Wohnzimmer: Direkt über dem schwarzen Ledersofa prangt das Bildnis der vermutlich längst Verblichenen. Von seinem Stammsessel gegenüber hat der Tauben-Profi alles Wesentliche im Blick: Den Fernseher, die Taube und natürlich die hart erkämpften Ehrenurkunden – die für den „Derbyflug Karlsruhe“ oder die mit den geschwungenen Lettern für die unvergeßliche 360-Kilometer-Strecke Köln-Hamburg.
Unübersehbar die acht blitzblanken Pokale, der stille Charme des dunkelbraunen Wohnzimmerschranks. Die bescheidenen Inschriften „Pokalmeister der Jungmeister 1991“ oder „1. Jungmeister 1985 des Brieftauben-Vereins Nettelnburg“ lassen nur ansatzweise die Zitterpartien nachempfinden, die dem jeweiligen Sieg vorausgingen. „Es ist wie ein Virus“, beschreibt Hermann Riege seine Sucht, deren zehnjähriges Jubiläum er kürzlich beging: Ein Edel-Taubenschlag im Garten mit schmucken Einzelkäfigen, Zeituhr-gesteuerte automatische Beleuchtung und derzeit 100 wohlbehütet flatternde Insassen. Wie geklonte Vögel hocken sie auf der Stange – nur Hermann Riege kann sie unterscheiden. Er hat ihnen die Züchter-Ringe über die Krallen gestülpt, kaum daß die Küken geschlüpft waren. Er füttert sie, kratzt ihre ätzenden Exkremente weg, spricht mit ihnen, verzichtet seit Jahren auf seinen Urlaub. Er weiß, daß er ein guter Trainer ist.
Dieses nervöse Warten. Das ständige Bangen, ob die zuvor per Spezial-Laster verschickte Brieftaube wohl unverletzt von ihren bis zu 1000 Kilometer weiten Reisen zurückkehren wird – Verirrung und Verletzung sind nie auszuschließen. Die Saison dauert von April bis September. Die großen Verlustängste. Der Adrenalinschub, wenn die Taube mit 60 Sachen als winziger Punkt am Horizont auftaucht: Hermann Riege greift erleichtert zum Bier und zum Telefonhörer: Seine zwölf Kumpels aus dem Nettelnburger Brieftauben-Verein will er vor Neid erblassen hören.
„Sportlich war ich schon immer.“ Und ein paar Brieftauben torkelten neben Hühnern und Kanarienvögeln auch seit jeher über Rieges 3000-Quadratmeter-Grundstück. Als er dann 1985 unverhofft seinen ersten Flugpreis gewann, ging Hermann Riege aufs Ganze und in den Verein: Inzwischen gehört der Profi schon fast zur Altherren-Riege der Taubensportler.
„Wer einmal anfängt, Brieftauben zu züchten“, sagt der Züchter und krault seinen derzeitigen Lieblings-Täuberich wie ein Zwergkaninchen, „kommt davon nicht mehr los.“ Für den Sprecher der Kulturbehörde, Ingo Mix, eine unerträgliche Vorstellung: Diese mittelgroßen, blau-grauen „fliegenden Ratten“ mit gedrungenem Körper und leicht gekrümmtem Schnabel als „Kulturvögel“ anzuerkennen, kostet ihn Überwindung: „Na gut, weil sie in der Nähe menschlicher Ansiedlungen leben.“ Daß Patrick Süßkind sich genötigt fühlte, „die Taube“ zum Titel einer Erzählung zu machen, daß Picasso gar seine Tochter mit einem Vornamen strafte, der sie lebenslänglich an Tauben erinnern sollte – Geschmackssache. Daß weiß-blaue Friedenstauben-Wimpel über Jahre hinweg durch anti-AKW-bewegte Wohnstuben flatterten und gern auch direkt über dem Auto-Auspuff klebten („I fly bleifrei“) – kollektive Ausrutscher. Vielleicht, spekulieren der Behörden-Sprecher und die Schreiberin, hätte der gottgesandte Abenteurer Noah damals die Episode mit der Taube und dem Ölzweig im Schnabel in seinem Katastrophenbericht über die Sintflut einfach unterschlagen sollen. Dann würde heute niemand mehr über den „Mythos Taube“ rätseln. – Vielen läuft beim Anblick des zarten Edel-Geflügels in Hermann Rieges Verschlag eben einfach nur das Wasser im Munde zusammen.
Tauben sind wie Adler. Normalerweise lebt ein Paar über Jahre in trauter Monogamie. Deshalb reist Hermann Riege immer „auf Witwerschaft“: Die Turtelnden werden voneinander getrennt. Sehnsucht beflügelt. Und das hat dem Züchter mehr Pokale eingebracht als die Zeiten, da „wir noch mit der Nestmethode reisten“: Sobald eine Taube Eier gelegt hatte, wurde sie von ihrer Brut getrennt und zum Wettfliegen geschickt. Herzzerreißende Mutter-Kind-Szenen soll es gegeben haben.
Die Rieges begleiten ihre Tauben nie persönlich. Die meisten der fernen Lüfte, die ihre Schützlinge schon durchschwebt haben, kennen sie nur von der Landkarte. Aber weil sie in Gedanken immer bei ihnen sind, sprechen sie wie selbstverständlich von diesem „Wir!“-Reisefieber.
Alles Mißbrauch, schimpft die Aktionsgemeinschaft Frieden für die Stadttauben. Der Züchter nutze die Treuherzigkeit der Tiere schamlos aus und denke nur an seine üble „Geschäftemacherei“. Der Klub, nach eigenen Angaben mittlerweile in 27 deutschen Städten vertreten, hat sich der Bekämpfung rassistischer Ausschreitungen gegen Tauben verschrieben. Der „totale Taubenkrieg“ richte sich vor allem gegen die gemeine Stadttaube. Schuld an den heutigen, träg-fetten und durch die Innenstädte watschelnden Scharen seien die alten Babylonier. Die hätten die Tauben damals von den Felsen in die Stadt gelockt. Mauervorsprün-ge, Fenstersimse, steil aufragende Statuen und sonstige Baudenkmäler wären somit ihr ganz natürlicher Lebensraum.
Eine soziale Erhaltensverordnung für die Ringeltauben! Kampf dem Denkmal-Leerstand! Keine Verdrängung der alteingesessenen Lach-, Wild- und Turteltauben! Bei solchen Forderungen wird es dem Leiter der Hamburger Bau- und Kunstdenkmalpflege, Volker Konderding, mulmig: Tauben und ihr ätzender Kot sind die ärgsten Feinde seiner Sandstein-Denkmäler. Mehr Netze, dünne Drähte, Kunststoff-Dornen und sonstige „humane Taubenabwehrsysteme“, die Schädlingsbekämpfungsgesellschaften im Branchenbuch zuhauf als „zuverlässig, umweltfreundlich“ anbieten, fordert der Denkmalschützer. Und riskiert, als ebensolcher „Tauben-Rassist“ beleidigt zu werden wie einst die Sprecherin der Gesundheitsbehörde: Die hatte sich zu behaupten erdreistet, Tauben könnten Salmonellen, Milben, Zecken, Wanzen und Infektionen übertragen. Eine Taubenplage drohe aber nicht mehr: Seit 1975 blieb von den einst 100.000 Stadttauben in Hamburg ein mickriges Viertel übrig. „Schlechter Bruterfolg“, will die Umweltbehörde nichts von Spukgeschichten über Meuchelmörder wissen, die den bedauernswerten Kreaturen zwecks Dezimierung mit vergiftetem Brot aufgelauert haben sollen.
Natürlich geht es beim Taubensport auch um Geld und Gewinn, aber es sind nicht die großen Wett-einsätze, die Hermann Riege reizen. „Wir spielen um eine Runde am Tresen.“ Mindestens einmal wöchentlich trifft man sich im Vereinshaus, so wie damals, als der Vater zweier Kinder noch in Bergedorf Fußball spielte. Die nächste Saison wird besprochen, vielleicht ein gutes Tauschgeschäft gemacht, das Fest am kommenden Wochenende geplant. Anfang des Jahres fuhr man gemeinsam ins Tauben-Mekka nach Dortmund zur Messe. Das Ruhrgebiet, lange vor Herbert Grönemeyers Bochum-Hymne ein „Himmelbett für Tauben“, ist selbst nach mehr als 100 Jahren Brieftauben-Verein Nettelnburg das große Vorbild. Und doch ist es eine völlig andere Geselligkeit als die im Ruhrgebiet, die die norddeutschen Taubensportler teilen. Es geht irgendwie professioneller zu.
Auch Hermann Riege neigt zum Perfektionismus: Zwei Taubenfachzeitschriften hat er abonniert, im Regal macht sich das Wissen über die „Geschichte der Brieftaube“ in vier Bänden breit. Die Werkstatt quillt über vor Pappschalen – weil die Tauben nur schlampige Polster statt kunstvoller Nester zu bauen in der Lage sind, schenkt Hermann Riege ihnen Nisthilfen. Das „Einreiten“ seiner Tauben nach einem Wettrennen in den heimischen Stall beobachtet er – originalgetreu der Riten aus der Emscherzone – von der Gartenlaube aus. Doch längst ereignet sich das Natur-Spektakel auf seinem Computer-Bildschirm. Der Taubenschlag ist – ganz unklassisch – nicht unterm Dach, sondern eine Iso-Zelle im Garten. Nie würde der Norddeutsche seine Nachbarn mit ewigen Gurrlauten und Taubenkacke quälen.
Für die Dortmunder Willi und Erna undenkbar. Die beiden haben den Generationenwechsel der Taubenzucht noch nicht vollzogen. Sommertags sitzen sie wie ihre Urgroßeltern im Breitrippen-Hemd im Schrebergarten – Campingstühle, Bierchen, Radio sind immer dabei – und halten nach den Tauben Ausschau. Natürlich alles Prachtexemplare auf ihre Art, aber keine hanseatischen Edeltauben, die zigtausend Mark gekostet haben. Die Rennpferde des kleinen Mannes eben. Über die unterschiedliche Verbundenheit von Menschen aus dem Pott bzw. von der Elbe mit ihrer Stadt hat ein aufmerksamer Beobachter herausgefunden, die Hamburger ehrten sie stolz-distanziert, die Ruhrgebietler dagegen seien ihrer Region bedingungslos verfallen. Bei den Tauben verhält es sich wohl ähnlich.
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