Standpunkt steigende Meeresspiegel: Eisschild im freien Fall

Klimaforscher haben seit den 1970ern davor gewarnt: Jetzt ist der Westantarktische Eisschild instabil geworden.

Das Westantarktische Eisschild zieht sich mehr als einen Kilometer pro Jahr zurück. Bild: dpa

Ein US-Fachjournalist nannte es einen „holy shit moment for global warming“ – aber das ist untertrieben. Es ist ein historischer Wendepunkt – nicht nur für die Klimaforschung, sondern für die Menschheit. Seit dem Frühjahr 2014 wissen wir: der Westantarktische Eisschild ist höchstwahrscheinlich instabil geworden und damit gewissermaßen im freien Fall. „Der Planet ist in eine neue Ära eingetreten“, schrieb der Antarktisexperte Anders Levermann kürzlich dazu. Damit sind mehrere Meter Meeresspiegelanstieg und der Untergang von Küstenstädten und ganzen Inselstaaten vorprogrammiert und praktisch unausweichlich geworden.

Drei riesige Kontinentaleisschilde gibt es derzeit auf der Erde: den Grönländischen, den Westantarktischen und den Ostantarktischen Eisschild. Es handelt sich um mehrere tausend Meter dicke Landeismassen, die die Schneefälle von hunderttausenden Jahren enthalten und zusammen genug Wasser binden, um damit den Meeresspiegel weltweit um 65 Meter zu erhöhen.

In den 1970er Jahren wurde von Glaziologen wie Hans Weertman, Robert Thomas und Terry Hughes eine fundamentale Instabilität von Eisschilden erkannt, die „marine ice sheet instability“. Sie betrifft Eismassen, die auf Land unterhalb des Meeresspiegels liegen und ins Meer fließen und kalben. Eine solche Eismasse hat eine Aufsetzlinie, ab der sie nicht mehr am Boden aufliegt sondern schwimmt. Den auf dem Meerwasser schwimmenden Teil nennt man Eisschelf.

Schrumpft die Eismasse im Zuge eines Klimawandels, zieht sich die Aufsetzlinie landwärts zurück. Der Knackpunkt: fällt der Boden unter der Aufsetzlinie landeinwärts ab, wird der Eisrückzug instabil. Nichts verhindert dann ein immer rascheres Abfließen des Eises ins Meer, denn je tiefer die Aufsetzlinie ist, desto weniger wird das Eis durch Reibung am Untergrund gebremst.

Der Eisverlust der Antarktis

Diese Bedingungen treffen auf den Westantarktischen Eisschild zu – und ein Verlust dieses Eisschildes würde alleine den globalen Meeresspiegel um mehr als drei Meter anheben. Bereits im Jahr 1978 warnte der US-Forscher John Mercer eindringlich in seinem Aufsatz „West Antarctic ice sheet and CO2 greenhouse effect: a threat of disaster“ in der Fachzeitschrift Nature: „Der Verlust des Westantarktischen Eisschildes wäre wahrscheinlich die erste desaströse Folge der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe“.

Er erinnerte auch bereits daran, dass es einen Verlust des Eisschildes offenbar schon einmal gegeben hatte. Mercer verwies auf den hohen Meeresspiegel in der Eem-Zwischeneiszeit vor rund 120.000 Jahren, als das Klima zuletzt etwas wärmer war als im jetzigen Holozän. Nach der aktuellen Einschätzung des Weltklimarates IPCC lag der Meeresspeigel damals fünf bis zehn Meter höher als heute – was kaum ohne einen substanziellen Eisverlust der Antarktis erklärbar ist.

Mercers Warnungen wurden lange als schwer kalkulierbares Risiko einer globalen Erwärmung gehandelt. Zwar beobachtet man seit zwei Jahrzehnten einen sich beschleunigenden Eisverlust der Antarktis – aber es war unklar, ob und wann der Kipppunkt überschritten wird, ab dem die Schmelze zum unaufhaltsamen Selbstläufer wird. Nun aber haben gleich mehrere Forschergruppen mit unterschiedlichen Methoden gezeigt, dass der von Mercer befürchtete instabile Eisrückzug eingesetzt hat.

Messdaten belegen: Die Aufsetzlinie des Westantarktischen Eisschildes zieht sich um teils mehr als einen Kilometer pro Jahr zurück und hat in der Amundsen-See die Spitze einer Bodenerhebung überschritten – von nun an geht‘s bergab. Der weitere Rückzug folgt purer Eigendynamik, bis das gesamte Amundsenbecken (etwa so groß wie Frankreich) von Eis entleert ist und der Meeresspiegel weltweit dadurch um einen Meter steigt. Höchstwahrscheinlich wird dies das Ende des gesamten Westantarktischen Eisschildes besiegeln.

Folgen wie Sturm Sandy

Das zeigen Simulationsrechnungen mit Eismodellen. Nur über das Tempo gibt es noch erhebliche Unsicherheit. Auf jeden Fall wird dieser Prozess für mehrere Jahrhunderte einen unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels bedeuten. Dabei verschlimmert schon heute der Meeresspiegelanstieg die Folgen von Sturmfluten wie nach Sturm Sandy 2012 in New York oder Haiyan 2013 auf den Philippinen.

Mercer endete seinen Aufsatz mit dieser Warnung: „Eines der Warnzeichen, dass ein gefährlicher Erwärmungstrend in der Antarktis im Gange ist, wird das Aufbrechen der Eisschelfe an beiden Küsten der Antarktischen Halbinsel sein, angefangen mit den nördlichsten und sich allmählich nach Süden ausbreitend.“ Genau dieser Zerfallsprozess wird seit Jahrzehnten durch Satelliten dokumentiert: Wordie Eisschelf (Kollaps 1992), Prinz Gustav Eisschelf (1995), Larsen A (2000), Larsen B (2002), Wilkins Eisschelf (im Gange).

Nach neuen Erkenntnissen ist die Gefahr noch größer, als Mercer sie vorhergesehen hat. Denn auch Teile des viel größeren, lange als stabil geltenden Ostantarktischen Eisschildes könnten ähnlich anfällig sein und den Meeresspiegel nochmal um weitere Meter nach oben treiben. Sind die Zeitungen voll von Berichten und Analysen? Brummen die Talkshows mit Debatten, wie man mit dieser Situation am besten umgeht und wie verhindert werden kann, weitere Kipppunkte des Klimasystems zu überschreiten? Immerhin dürften die Konsequenzen für die Menschheit erheblich gravierender und anhaltender sein als das meiste , was heute die Medien füllt.

Wie viele weitere Warnungen von Klimaforschern müssen eintreffen, bevor sie ernst genommen werden? Noch können wir eine weitere Beschleunigung des Zerfalls des Westanarktischen Eisschildes und das Überschreiten weiterer gefährlicher Kipppunkte vermeiden, indem wir die globale Erwärmung endlich stoppen. Der NASA-Glaziologe Eric Rignot hat es so formuliert: „Die Zeit zu handeln ist jetzt. Die Antarktis wartet nicht auf uns.“

Stefan Rahmstorf. Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 4/2014. Den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.