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Das Duschbad in der Menge

Ob oben ohne oder dezent keusch: Die Brasilianerinnen berauschen sich beim Karneval am Applaus. Die Wahnsinnsfrauen in Rio besuchte  ■ Astrid Prange

„Brasiliens Visitenkarte ist der Karneval, und Karneval hat sich als soziales Trampolin bewährt“, sagt Marlene Rosa. Die erfahrene Kostümträgerin ist in ganz Rio für ihre Fähigkeit bekannt, lächelnd in erdrückend schweren Luxustrachten über die Bühne zu rauschen, im Takt des Sambarhythmus versteht sich. Dennoch kann die dreifache Meisterin im Vorführen überschwenglicher Karnevalskostüme von ihrem Ruhm nicht leben. Sie verkauft tagsüber Konfektionen einer Textilfabrik an Boutiquen, um damit ihre Gage von der „Plataforma“, einer ganzjährig geöffneten Schaubühne für Karneval- und Folkloreshows in Rio, aufzustocken. Der Nachwuchs Marlene Rosas an der „Plataforma“ gibt sich keinen großen Illusionen hin. „Der Traum vom Fotomodell ist ein Märchen. Das muß schon eine Wahnsinnsfrau sein, die ausgerechnet in der Menschenmenge auf der Marques de Sapucai entdeckt wird“, wendet Nara, Probetänzerin bei der „Plataforma“, skeptisch ein. Dennoch hält sich der Mythos vom Samba als soziales Trampolin beharrlich. „Jedes Jahr wird eine Frau auf dem Wagen entdeckt, und zwar diejenige, von der es keiner erwartet hat“, lautet die Erfahrung von Wagner Araujo, Vorsitzender der Sambaschule „Imperatriz Leopoldinense“. Araujo ist an dem „Märchen“ nicht ganz unbeteiligt. Schließlich behält er sich die Auswahl der Frauen vor, die „topless“ auf den üppig geschmückten Umzugswagen Samba tanzen. Vor zwei Jahren, als seine Sambaschule mit dem Umzugsthema „Wasser“ den Meistertitel holte, gelang Tänzerin Melissa der Durchbruch. Beim Duschbad waren nur ihre Konturen hinter dem Duschvorhang zu erkennen. Der dezente Striptease verhalf ihr zu einer vielversprechenden Karriere als Fotomodell.

Nur Dona Neuma, Mitbegründerin der traditionellen Sambaschule „Mangueira“ aus Rio, kann sich mit den losen Sitten während der schweißtreibenden Karnevalszeit nicht anfreunden. „Nackte Frauen auf den Umzugswagen finde ich schrecklich“, beklagt sich die 73jährige. Ihre Enkelinnen hat sie zur Keuschheit verdammt. „Es ist mir egal, ob ich spießig bin oder nicht, aber wenn man die Zügel losläßt, wollen plötzlich alle nackt beim Karnevalsumzug sein“, meint Dona Neuma verächtlich.

„Eine barbusige Frau auf einem Umzugswagen? Wenn sie es sich leisten kann, finde ich das wunderbar!“, schwärmt dagegen Marlene Rosa. Die 42jährige Kostümträgerin, seit 1982 im Karnevalsgeschäft, teilt das Bedürfnis nach Anerkennung. „Das ist die Explosion der Lebensfreude! Die Frauen berauschen sich am Applaus.“

Ob wunderbar oder vulgär – die Karnevalsbranche ist einer der wenigen Wirtschaftszweige, der Brasiliens tanzenden „Mulatas“ Aufstiegschancen bietet. „Die Mädchen kommen hierher, weil sie in der Welt herumkommen wollen“, erklärt Edson Figueiredo. Der 22jährige Ballettänzer studiert mit dreißig jungen schwarzen Frauen die Choreographie für die Folkloreshow in der „Plataforma“ ein. Wer den Sprung auf die Bühne schafft, verdient rund 500 Mark im Monat und, noch wichtiger, geht für zwei Monate im Jahr auf Auslandstournee. „Draußen“ bekommt eine Tänzerin umgerechnet 3.500 Mark im Monat auf die Hand.

„Das einzige, was Brasilien wirklich kann, ist seine Mulatas verkaufen“, meint auch Sambatänzerin Christiane aus Rio. Die 24jährige arbeitet seit drei Jahren im Karnevalsgeschäft. Im vergangenen Jahr schaffte sie den Sprung: Sie tanzte „oben ohne“ auf dem Umzugswagen der Sambaschule Imperatriz Leopoldinense.

Der Begriff „Mulata“ (von „mula“ = Esel) ist nicht gerade schmeichelhaft. Einerseits gelten „Mulatas“ als Synonym schwarzer Sinnlichkeit und Schönheit. Andererseits ist die Redewendung „als Mulata arbeiten“ in Brasilien eine Umschreibung für Prostitution. Tänzerin Christiane, als „Mulata“ in der „Plataforma“ angestellt, stört das nicht im geringsten. „Ich werte dies nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment“, kokettiert die 24jährige. Das Klischee von der Afro-Brasilianerin mit dem angeborenen Rhythmusgefühl kommt ihr gerade recht. „Wir haben den Samba im Blut“, sagt sie stolz und die dreißig Kolleginnen, die mit ihr in der „Plataforma“ trainieren, nicken zustimmend.

Doch der Karneval hat noch andere Seiten. „In einer Sambaschule kommen alle unter“, erklärt die Feministin Maria Rita vom Kulturinstitut IDAC aus Rio. Frauen würden als Musen, Königinnen, aber auch als Komponistinnen, Choreographinnen und Mütter gefeiert. Vor sechs Jahren schockte die Sambaschule „Vila Isabel“ bei ihrem Umzug mit dem Thema „Die Erschaffung der Welt“ das Publikum mit einer dichtgeschlossenen Reihe von schwangeren Frauen, die die Rhythmusgruppe anführten. „Die Jury wollte nicht glauben, daß wirklich alle Frauen im siebten Monat schwanger waren und vergab deshalb schlechte Noten“, erinnert sich Frauenforscherin Maria Rita. Die Idee, werdende Mütter neben den Mulatas tanzen zu lassen, stammte von Licia Maria Caniné, ehemalige Direktorin von „Vila Isabel“. Die 49jährige Sambachefin schlägt seit 1990 in der Rhythmusgruppe von „Vila Isabel“ die Trommeln. Die „Baterias“, wie die Rhythmusgruppen der Sambaschulen genannt werden, sind traditionell ein Refugium für Männer. Nur 300 Frauen haben in Rio die Barriere von Vorurteilen durchbrochen und sich einen Platz am Puls der Sambaschule erstritten. Ihre Zeit als Vorsitzende von „Vila Isabel“ beschreibt Licia Caniné folgendermaßen: „Ich hatte weder Zeit zum Essen noch zum Schlafen. Aber ich habe mir Respekt verschafft.“ Die Männerherrschaft hinter den Kulissen des Karnevals betrachtet sie als persönliche Herausforderung. In diesem Jahr kandidiert sie wieder als Direktorin für „Vila Isabel“.

Sambatänzer Marco Antonio Rodrigues, der für die traditionelle Sambaschule „Mangueira“ die rosa-grüne Fahne vorführt, lobt die Schönheit der Mädchen aus „seinem“ Armenviertel. „Jedes Jahr beim Karneval fragen sich die Leute, wo die ganzen hübschen Frauen herkommen“, erklärt er mit Besitzerstolz. Für die Ambitionen der Mädchen aus der Favela, Karneval als Karrieresprungbrett zu nutzen, zeigt er vollstes Verständnis, solange es sich dabei nicht um seine eigene Freundin handelt. Für nackte Männer hingegen hat er nichts übrig. „Wer sein Geschlechtsorgan zeigt, will nur Aufsehen erregen“, meint er abschätzend.

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