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Elegantes Sparschwein Abitur?

■ Kultusminister sind sich fast einig: „traditionelle Auslesefächer“ sollen wieder verbindlich sein / Senatorin Raab fürchtet „soziale Selektion“ Von Kaija Kutter

Es gibt eine bundesweite Tendenz, die Hamburgs schulpolitische Öffentlichkeit vollends verschläft: die Demontage der Oberstufenreform. Vergangenen Herbst, so schien es, waren sich Kultusminister von CDU- und SPD-regierten Ländern nahezu einig darüber, was der richtige Weg sei, um die oft bemängelte „Studierfähigkeit“ der Abiturienten zu erhöhen. Back to the sixties: die verpflichtende Belegung der Fächer Deutsch, Mathematik und 1. Fremdsprache bis zum Abitur.

Ein Schritt, der die „soziale Selektion“ der Schüler wieder beträchtlich verschärfen würde, fürchtet Hamburgs Schulsenatorin Rosemarie Raab. Jene Fächer gelten als „traditionelle Auslesefächer“, deren Bewältigung Kindern aus Bildungsbürgerkreisen leichter fällt als denen aus weniger privilegierten Schichten. Die Einführung der reformierten Oberstufe 1972, die Zwölft-kläßlern freistellt, je ein Leistungsfach aus dem sprachlich-literarischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und geschichtlich-gesellschaftlichen Bereich zu wählen, hatte eben das Ziel, die Auslese „weitestgehend zu minimieren“ (Raab).

Doch in den vergangenen Jahren häuften sich Klagen nicht nur von Professoren über „mangelnde Studierfähigkeit“. Schüler wären zu früh spezialisiert, hätten zwar fachspezifische Kenntnisse auf hohem Niveau, doch mangele es ihnen an der Fähigkeit, diese sprachlich darzustellen, klagten Hochschullehrer wie Kultusminister auf einer Fachtagung Ende 1993 in Loccum. Auch lasse die Fähigkeit, fremdsprachliche Fachliteratur als Quelle zu nutzen, zu wünschen übrig, und es hapere mit methodischem Anwendungswissen wie Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Den Klagen folgten Taten. Anfang Februar 1994 verabschiedete die Kultusministerkonferenz (KMK) eine Vereinbarung zur „Sicherung der Qualität der allgemeinen Hochschulreife“, in der einer fachbezogenen, aber auch fächerübergreifenden Kompetenz in „Deutsch, einer Fremdsprache und Mathematik“ besondere Bedeutung zugemessen wird. Ende September signalisierten sowohl Bayerns Bildungsminister Hans Zehetmair (CSU) als aus NRW-Kultusminister Hans Schwier (SPD) weitgehende Einigkeit, daß „Kernfächer Vorfahrt haben müssen“ (Schwier). Eine neue Vereinbarung sollte es noch im Dezember geben.

Doch auf Intervention von Rosemarie Raab, die in ihrer Funktion als KMK-Präsidentin auch Schwerpunkte setzen darf, wurde der hektische Einigungsprozeß zwischen SDP- und CDU-Ländern gerade noch gestoppt. Ihr Einwand: Es sei weder definiert, was „Studierfähigkeit“ eigentlich bedeutet, noch empirisch belegt, daß die Reform von 1972 gescheitert sei. Auch müsse die Frage erlaubt sein, ob Probleme im Studium von den Universitäten selbst verursacht seien. Und wenn es denn Defizite in der Grundbildung gebe, müsse auch geklärt werden, ob nicht eine Reform der Mittelstufe viel aussichtsreicher sei.

Außerdem, so die Hamburger Bildungspolitikerin offensiv, gehe es nicht um die Frage, ob, sondern wie Leistung erbracht wird. Raab: „Unstrittig ist, daß die Reform von 1972 unvollständig ist.“Der damals eingeleiteten organisatorischen Reform sei die inhaltliche nicht gefolgt. Deren Ausgestaltung müsse „zentraler Gegenstand“ der anstehenden Weiterentwicklung sein.

Um all dies zu klären, soll eine Expertenkommission eingesetzt wer-den, die auch den Sachverstand von Schule, Hochschule, Wirtschaft und Wissenschaft einholt. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Noch im Dezember 1995, so kündigte Raab Mitte Januar bei ihrer Antrittsrede als KMK-Vorsitzende an, müßte das Gremium Beschlüsse fassen.

Hamburg wird das Thema „Oberstufe“ im kommenden Jahr so oder so beschäftigen. Denn 1987 gab es schon einmal eine „Oberstufen-Deform“, gegen die Zigtausende von Schülern vergeblich auf die Straße gingen. Die KMK traf damals eine Rahmenvereinbarung, die zwei der drei Hauptfächer als verbindlich vorschreibt. Die damals neu angetretene Schulsenatorin Raab handelte eine weitgehende Übergangsregelung aus: Erst 1996 muß Hamburg diese erste Verschärfung der Belegverpflichtung umsetzen.

In Schleswig-Holstein demonstrierten in dieser Woche 30.000 Schüler gegen eine ähnliche Regelung: Die neue Oberstufenverordnung (Ovo) schreibt zusätzliche Stundenverpflichtungen in einer Fremdsprache sowie einer weiteren Fremdsprache oder Mathematik oder Naturwissenschaft oder Gesellschaftswissenschaft vor. Was die Schüler im nördlichen Nachbarland empört, ist aber noch etwas anderes: Künftig wird dort für Jahrgang 11 der „gemäßigte Klassenverband“ eingeführt. Die Wahlfreiheit wird eingeschränkt, die Hälfte des Unterrichts findet nicht mehr in Kursen, sondern in überwiegend sehr viel größeren Klassen statt. Kiels Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) verspricht sich davon einen strafferen Personaleinsatz: 100 Stellen werden gespart.

Die Tatsache, daß sich kaum ein SPD-Minister nachdrücklich gegen eine erneute Verschärfung stellt, führt Rosemarie Raab darauf zurück, daß hier „ein eleganter Weg gesehen wird, Sparauflagen zu erfüllen“. Denn für ein reduziertes Kursangebot muß auch nur eine geringere Zahl von Lehrkräften vorgehalten werden. Konservative wie die ehemalige Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Steffi Schnoor, sprechen davon, durch erhöhte Anforderungen die „Anzahl der Gymnasialanfänger allmählich zu senken“. Und CSU-Mann Zehetmair bezeichnete gar die Schweizer Abiturientenquote von 14 Prozent als vorbildlich: Weniger Abiturienten, weniger Kosten.

Für Raab eine kurzsichtige Rechnung: belegt doch eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarktforschung, daß der Bedarf an Akademikern bis 2010 erheblich steigen werde. Ziel einer „Quali-tätssteigerung“ müsse deshalb sein, „eine möglichst hohe Zahl von Schülern zu einem möglichst qualifizierten Abschluß zu führen“.

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