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Über 1,5 Milliarden Menschen feiern heute nach dem chinesischen Mondkalender das Neujahrsfest. Damit verläßt uns das Schwein, das Jahr der Ratte beginnt - und verheißt weit weniger Ekliges, als Sie denken. Denn da das Tierchen fleißig Vorrä

Über 1,5 Milliarden Menschen feiern heute nach dem chinesischen Mondkalender das Neujahrsfest. Damit verläßt uns das Schwein, das Jahr der Ratte beginnt – und verheißt weit weniger Ekliges, als Sie denken. Denn da das Tierchen fleißig Vorräte anhäuft, winkt womöglich der Wohlstand

Die Ratten entern das neue Jahr

Während hierzulande die meisten guten Vorsätze für 1996 bereits wieder vergessen sind, beginnt für über 1,5 Milliarden Menschen das neue Jahr erst jetzt: Heute feiern die ChinesInnen Frühlingsfest (chunjie). Denn am 19. Februar fängt nach dem chinesischen Mondkalender das neue Jahr an. Auch in Ländern wie Vietnam und Korea, die von der chinesischen Kultur beeinflußt sind, wird dieses Fest heute begangen.

Um dieses wichtige Ereignis drei Tage lang im Kreise der Familie feiern zu können, reisen derzeit in der Volksrepublik China Zigmillionen Menschen aus allen Landesteilen in ihre Heimatstädte – eine riesige Völkerwanderung. Wohnhäuser werden mit roten Papierstreifen geschmückt, die glückbringende Aufschriften oder Abbildungen von Glücks- und Reichtumsgöttern tragen.

Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen überall auf dem Globus in chinesischen Geschäften und Restaurants goldene Ratten in allen Formen und Größen begegnen: denn nach dem Jahr des Schweins bricht nun das Jahr der Ratte an. Genau ein Jahr lang wird man in China überall über Ratten stolpern. Während die meisten Menschen in unseren Regionen eine ostentative Abneigung gegen Ratten hegen, soll der Nager in China eher Glück bringen. Und das wird er wohl auch, gilt er doch dort aufgrund seiner Fähigkeit, Vorräte aufzustöbern, zu erbeuten und anzuhäufen, als Symbol des Fleißes und Wohlstandes. In der südchinesischen Provinz Guangzhou, deren EinwohnerInnen seit jeher für ihre ungewöhnliche Küche bekannt sind, gilt die Ratte gar als kulinarische Delikatesse, deren getrocknetes Fleisch vor allem bei älteren Herren das Haupthaar wieder sprießen lassen soll.

Zu solcher Ehre kommt die Ratte aufgrund einer uralten Tradition: Als der Himmelskaiser in grauester Vorzeit auf die Idee kam, die Jahre des chinesischen Kalenders und die Stunden des Tages nach Tieren zu benennen, rief er als Boten den Affen zu sich, der diese Nachricht in der Tierwelt verbreiten sollte. Da die Reihenfolge der Ernennungen aber mit dem Ausgang des himmlischen Wettlaufes verbunden werden sollte, rechnete der Affe sich größere Chancen aus, wenn er nur einigen Tieren Bescheid gäbe. Und so waren es dann Ratte, Büffel, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Hahn, Hund und Schwein, die außer dem Boten selbst zur Ehre eines eigenen Jahres kamen.

Gilt die Ratte in China nun als Glücksbringer, oder hat das Tierkreiszeichen bisher – gleich seinen irdischen Brüdern und Schwestern – Aggressivität und Vielfräßigkeit bewiesen? Es waren Jahre der Ratte, als zu Beginn dieses Jahrhunderts der Boxeraufstand (im Jahr 1900) einen heißen Sommer lang die Macht der Kaiserinwitwe Cixi in Nordchina erschütterte und zwölf Jahre später die über 2.000 Jahre alte Monarchie Chinas durch den ersten Präsidenten der Republik, Yuan Shikai, abgeschafft wurde. Im gleichen Jahr 1912 noch entstand die Kuomintang (KMT), die Nationale Volkspartei Chinas, und im Winter 1912/1913 fanden die ersten Wahlen in China statt; allerdings noch aufgrund eines sehr beschränkten und indirekten Wahlrechtes.

Wieder im Tierkreiszeichen des erfolgreichen Nagers gründete Dr. Sun Yat-sen 1924 in Kanton parallel zur Militärherrschaft in den chinesischen Provinzen eine nationale Regierung, und somit wird er noch heute von ChinesInnen einhellig als „Vater der Republik“ gefeiert. Gleichzeitig entstand ebenfalls in Kanton die Militärakademie von Whampoa, deren erster Leiter, Chiang Kai-shek, später zum Nachfolger Suns avancieren sollte.

Ein Dutzend Jahre später – wir ahnen, daß wieder die Ratte im Spiel ist – wurden Chiang und Mao Zedong gezwungen, in eine Einheitsfront der Kommunisten und Nationalisten gegen den bereits in China tobenden japanischen Feind einzuwilligen. Die daran anschließende Phase des chinesischen Widerstands- und Bürgerkrieges wurde im Januar 1949, also kurz bevor die Ratte das Zepter an den Büffel weiterreichen mußte, durch den Einzug kommunistischer Truppen in Beijing besiegelt.

Ein Sprung in der Geschichte Chinas, der „Große Sprung nach vorn“, bringt uns zur nächsten Regierungsdevise der Ratte, die 1960 die verheerenden Folgen dieser Kampagne zu spüren bekam. Man begann zu begreifen, daß Bauern verhungerten und die Wirtschaft Chinas ein Trümmerhaufen geworden war. Mao Zedong mußte sich dem Vorwurf volkswirtschaftlichen Unverständnisses stellen und auch in der Parteiführung Fehler eingestehen; seine Macht begann zu bröckeln.

Der Eingang buddhistischer Tempel in China wird auch heute noch von vier Himmelskönigen bewacht, wobei der furchteinflößende König des Nordens auf seinem Rücken einen Sack aus Pantherfell trägt. Der Überlieferung nach ist darin eine weiße Ratte verborgen, die – sobald sie einmal freigelassen wird – ihre Feinde gnadenlos verschlingt.

Was nun wird den ChinesInnen und der Welt das anbrechende letzte Jahr der Ratte im 20. Jahrhundert bescheren? Die Anhäufung und Mehrung des nationalen Reichtums, oder – wie in der Geschichte schon so häufig – Umbruch und politisches Chaos? Schließlich sind Ratten äußerst anpassungsfähig und besiedeln trotz ihrer extrem geringen Spezialisierung heute weltweit Lebensräume jeglicher Art, wobei ihnen eine noch so schwierige Umwelt und Hindernisse kaum etwas auszumachen scheinen, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen.

Unser Sprichwort von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, kennt man in China dagegen nur in einer anderen Version. Dort heißt es: „Der umstürzende Baum zerstreut die Affen“ – und das Jahr des Affen kehrt erst 2004 wieder. Da freut sich die Ratte auf ihre 354 Tage dauernde Herrschaft. Wiebke Ernst

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