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Vierzig Jahre Frohe Zukunft – ganz am Rande der Stadt

Honecker liebte seine Bilder, darauf ist Willi Sitte heute noch stolz, und auf sich selbst: „Ich bin Kommunist!“ sagt der einstige Staatsmaler der DDR. An seinem 75. Geburtstag flieht er nach Wien – um Halle jede Peinlichkeit zu ersparen. Ein Hausbesuch  ■ von Jens Schmidt

„Willi“, hat seine Frau Ende Januar gesagt, „Willi, diesmal gehen wir!“ Dem konnte auch Willi nichts mehr entgegensetzen. Gemeinsam mit Ingrid, seiner Ehefrau, nahm Sitte das Sakko aus dem Schrank, zog sich den dunklen Mantel über und ging schon mal vor die Tür zum Auto. Mit seinem Kleinwagen fuhr das Ehepaar schließlich die zehn Autominuten zur Eröffnung einer Hermann- Bachmann-Ausstellung in der staatlichen Galerie Moritzburg.

Keine leichte Entscheidung.

Nicht, weil sich der 74jährige Kunstmaler Willi Sitte an diesem Sonntag abend zwischen „Herzen im Sturm“ oder „Der Bulle von Tölz“ im Fernsehen hätte entscheiden müssen. Nicht das. Nicht Sitte. Zum ersten Mal überhaupt seit der Wende hat der Mann wieder an einer öffentlichen Veranstaltung teilgenommen – ausgerechnet der Mann, der noch immer selbstbewußt von sich sagt: „Ich bin Kommunist.“

Und irgendwie war es schön, aber nur irgendwie. „Die kamen alle mit ausgestreckten Armen auf mich zu“, tut es dem Hallenser noch Tage später beim Erzählen gut, „und riefen: Willi, wie geht's dir denn?“ Das war's dann aber auch schon an Kommunikation. Mehr hatte man sich am Rande der Retrospektive, und dann auch noch vor anderen, nicht zu sagen. Gewundert hat es Sitte ja nicht. „So was ist eben immer mit Peinlichkeiten verbunden.“ Und die will er sich wie anderen ersparen.

So hält der Mann, der für die offizielle DDR als der vielleicht wichtigste Maler galt, sich für gewöhnlich zu Hause auf. Das Haus, sein Haus selbstverständlich, steht am Rande der Stadt, in der „Frohen Zukunft“. So heißt die Siedlung, in der er seit genau vierzig Jahren lebt, ein kleines, ruhiges Viertel. Eine Gegend, die bis 1925 eine Kohlenzeche war. Und wenn es die schmale Straße, die vielen Autofahrern in Stauzeiten als Geheimtip gilt, vor dem ausladenden Grundstück mit der Nummer eins nicht gäbe, dann würde Willi Sitte nicht einmal merken, daß er in Halle lebt.

So aber sitzt der Rentner auf der leinenbezogenen Couch im Wohnzimmer, in einem großen Raum voller Skulpturen und Grafiken. Neben sich die Lokalzeitung und das Neue Deutschland. Zu seinen Füßen liegt Oskar, sein Kater. Auf dem Seitbord Gysis „Freche Sprüche“. „Im ND“, lächelt Sitte unverbindlich, „lese ich ja vor allem das Feuilleton. Und manchmal schreibe ich denen auch einen Leserbrief.“ Letztens erst, als er las, daß Christo und Jeanne-Claude auch noch Gelder vom Berliner Senat beanspruchen, da platzte ihm doch der Kragen. „Als ob man für die noch Propaganda machen muß.“ Sagt es, und gönnt sich noch einen Schluck Weinschorle. Weil er Kaffee nur selten trinkt. Wegen des Koffeins.

Willi Sitte, einst Mitglied des SED-Zentralkomitees und Präsident des Verbandes Bildender Künstler in der DDR, hat einen ausgefüllten Tag. Denn Ehefrau Ingrid arbeitet noch als Dozentin an der Designhochschule. „Sie ist ja evaluiert worden, auch wenn man ihr Privilegien anhängen wollte.“ Aber außer der Chinareise, die die beiden – wohlgemerkt – auch selbst bezahlt hätten, ließ sich nichts finden. So lehrt seine Frau an der „Burg“, und der schmale Mann mit schmaler Goldrandbrille hütet tagsüber nicht nur das Haus, sondern paßt auch auf seine fünfjährige Enkeltochter auf.

Und da die Frohe Zukunft außer einem Kiosk keine ernstzunehmenden Lebensmittelgeschäfte vorzuweisen hat, setzt sich Willi Sitte am Vormittag oft in die Straßenbahnlinie eins. Er fährt auf den Marktplatz der Stadt. „Da kann ich mir an den Ständen die Kartoffeln selber aussuchen und weiß, welche Sorten mehlig sind.“ Kostverächter war Sitte nie.

Daß er überhaupt nach all den Jahren noch in Halle lebt – sieht man von dem kurzen Lazarettaufenthalt im Krieg einmal ab –, ist eher Zufall. Vor vierzig Jahren, die junge DDR war gerade von ihrer ersten Fluchtwelle erfaßt, gab es besonders günstige Konditionen für Künstler, die bauen wollten. Da sagte Sitte nicht nein, und 1955 gibt der Mann, der sich kurz vor Kriegsende noch italienischen Partisanen anschließt, auch seine gemietete Mansarde in Mailand auf.

Ausgerechnet Mailand. Seine ewige Liebe.

Und nun, vierzig Jahre später? Glücklich, wenn man das so nennen kann, ist er nur in seiner Familie. „Ich habe mir nach 1989 meinen eigenen Kommunikationskreis geschaffen.“ Weil es mit den einstigen Kollegen, „von denen ich nicht wußte, daß sie insgeheim im Widerstand waren“, keine Kontakte mehr gibt, geht Willi Sitte – nicht gerechnet die nachmittägliche Arbeit im Atelier – zum Stammtisch. „Wir haben eine Lokalität mit Séparée, so daß man auch mal ungestört miteinander diskutieren kann.“

Wenn Sitte von „wir“ spricht, meint er seine Freunde. „Einige Leute aus der Chemie“, also ehemals leitende Mitarbeiter der Großkombinate Buna und Leuna, einige ehemalige Professoren der Universität. Ansonsten fährt er einmal im Quartal nach Berlin, um die „Berliner Leute“ zu treffen. Auch da gibt es ein Lokal mit Séparée. Und zweimal im Jahr reist Sitte nach Italien. Für ein Berliner Reisebüro organisiert er Künstler- Reisen. Sitte gestaltet das Programm. Sagt, heute die Riviera, morgen Milano. So was tut gut.

In den Momenten, in denen er daran denkt, ist er richtig glücklich. Er streicht Oskar, seinen Kater, über den Rücken, bis der mit den Augen blinzelt und wohlig schnurrt. Auch Sitte schließt dann für einen Augenblick die Augen und sagt ganz plötzlich, als könnte er so die Realität überlisten: „Italien wäre ja mein Traumland.“ Am liebsten mag er Coretto. Diesen tollen Espresso mit einem Schuß Grappa. Jenen Coretto, von dem er bis heute nur vermutet, warum er in Deutschland nicht schmeckt. Es muß am Kaffee liegen. Und weil der Nordböhme Sitte, der zu Hause am liebsten Blackjeans trägt und wegen des Alters nur noch, wie er sagt, zuweilen Zigarre raucht, das liebt, werde er sich jetzt eine Toscanelli anstecken. Dieser irre Duft. Die Zigarren, die so kurz sind, wie sie teuer sind. „In Italien möchte ich leben.“

Zur Zeit reicht die Zeit nur für die zwei Busreisen im Jahr, denn seine Frau, die auch das Auto fährt, arbeitet. „Und als Single, ich weiß nicht.“ Das ist nichts für ihn. Nicht mehr in diesem Alter.

Das Telefon unterbricht den Besuch. Redakteure eines Fernsehsenders melden ihren Besuch an. Kein Problem. Der alte Mann schaut in seinen Kalender und taktet sie ein. Eines dieser Interviews. Sitte ist im Westen gefeiert, stellt mehr aus als je zuvor. In Bergkamen, erinnert er sich mit einem leicht sarkastischen Lächeln, saß er zur Ausstellungseröffnung neben der CDU-Landrätin von Unna. Im Osten dagegen, wo bis auf zwei alle seine Bilder in Kellern und Kisten verschwunden sind, wird er gemeinhin ignoriert. Selbst in Halle? Auch da. Nun ja.

Wenigstens der Kulturdezernent im Rathaus hat ihn vor wenigen Tagen einmal besucht. Allerdings nicht offiziell. Aber der Dezernent wird ja auch von der PDS gestellt. „Den Besuch hat wohl“, macht sich Sitte deshalb keine Illusionen, „die Partei moniert.“

Alt und souverän geworden ist Sitte jedenfalls in dieser knapp 300.000 Einwohner zählenden Stadt. Der Stadt, von der er sagt, daß er ihren Menschen, ihren Arbeitern, Denkmäler gesetzt habe: „Leuna 21“. „Im Leichtmetallwerk“. Oder das 25 mal 10 Meter große Bild in Suhl. Jetzt hat Sitte keine Illusionen. Er wollte, und das sagt er in dem Wissen, daß er unabhängig ist, nicht in diesem System leben. Auch deshalb hat er in den Wendetagen, was kaum jemand weiß, sein Testament geändert. Die Akademie der Künste hätte seinen Nachlaß erhalten. Sarah Rohrberg, seine Tochter aus zweiter Ehe mit Frau Ingrid, sollte ihn verwalten. Nun bekommt Sarah sein gesamtes Werk.

Sarah ist Ende 29 und betreibt im Erdgeschoß eines Ärztehauses, in dem auch Sittes Schwiegersohn Robert praktiziert, ein Galeriecafé. „Ein richtiges Kunstcafé“, freut sich Sitte für seine Tochter. Wenn ausreichend Zeit ist, fahren Vater und Tochter vormittags einkaufen. Das ist seine Hilfe. Wenn Sarah ein Bild für ihn verkauft, „dann bekommt sie Prozente“. Marktwirtschaft eben.

Und doch ist da noch ein Problem, über das er schon „so manches Schöppchen“ geleert hat. Schließlich hat Sitte öffentlich erklärt, im Osten nie wieder auszustellen. „Doch der Druck wird größer“, hat er ausgemacht. Wie aber ihn umgehen? Jetzt ist der Familie eine Idee gekommen. Sarah könnte ja im Galeriecafé... Es ist schwierig. „Wenn ich dann nicht zur Eröffnung gehe“, grübelt er, „dann heißt es wieder: Was ist denn das für ein Verhältnis zwischen den beiden?“ Sitte müßte sich also mindestens sehen lassen.

Genug gegrübelt. Normalerweise wäre Sitte um diese Zeit längst im Atelier. Gleich hinter dem Doppelhaus, in dessen zweiter Hälfte die Kinder mietfrei wohnen, steht es. Auf den ersten Blick eine große Wellblechhalle. Er schließt das Hoftor auf, in dem er extra ein kleines Loch für den vermuteten Waschbären vom Nachbargrundstück hat anbringen lassen, und schließt die Tür zum Atelier, seinem Atelier, auf.

Sitte hat es in der Wende erworben. Zuvor zahlte der Staat. Ein heller Raum, verkleidet mit Paneelen. Auf der Ablage die Marxistischen Blätter. Ein paar Staffeleien, eine ganze Reihe Bilder. Darunter viele Selbstporträts, die er erst mit zunehmendem Alter zu malen begann.

Eigentlich geht der Kunstmaler in dieser Jahreszeit später hinein. Die andauernde Kälte läßt in Minuten alle Glieder erstarren. „Wahrscheinlich werde ich“, hat sich Sitte deshalb vorgenommen, „noch eine Erdgasheizung einbauen lassen.“ Nur wenn das Fernsehen kommt und seine Scheinwerfer aufbaut, wird es warm.

Er stellt, auf die Selbstporträts angesprochen, die Bilder in eine Ecke. Er hat noch viel vor. In ein paar Tagen schon will er zu Freunden fahren. Ende Februar, zu seinem 75. Geburtstag, wird er in Wien sein. Er will seiner Stadt ja jede Peinlichkeit ersparen.

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