: Der Tokio-Effekt
■ Fremdheit in der eigenen Kultur, Blick auf die Ränder: Die Berliner Neue Gesellschaft für Bildende Kunst zeigt "Zeitgenössische Fotografie aus Japan"
Verrückt sind sie alle. Das ist nur zu leicht der Eindruck, den wir Europäer von den Japanern haben, bestärkt durch Filme wie „Im Reich der Sinne“ oder „Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb“. Als ob die Exotik, die der Blick des anderen (des langnasigen Westlers) auf die japanische Zivilisation hervorgebracht hat, inzwischen zum Prisma ihrer Selbstwahrnehmung geworden wäre, erzählen auch die Bilder japanischer Fotografen vom Fremdsein in der eigenen Kultur. Das Panorma eines permanenten Kulturschocks entspannt sich in der Ausstellung „Liquid Crystal Futures“, die aus der Fruitmarket Gallery in Edinburgh von der NGBK Berlin (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst) übernommen wurde.
„Die Sehnsüchte der Menschen erscheinen nur noch in Gestalt von Produkten, und was nicht in eine Ware verwandelt werden kann, hat keine Existenzberechtigung“, beschreibt Shinji Kohmoto, der als Kurator des „National Museum of Modern Art“ von Kioto die Fotografen im Auftrag der „Japan Foundation“ aussuchte, den Effekt der Tokiotisierung Japans. In den „Colorscapes“ von Nobuyoshi Araki, lange Bilderrollen aus Farbkopien, erstarren Frauenkörper im blauen Kunstlicht. Eingesponnen in rotes Papier, mit verbundenen Augen zwischen Glasscherben sitzend oder in hochgeschürzten Kimonos drapiert werden sie zu Skulpturen und Waren. Dazwischen schiebt Araki als Tagebuchnotizen Hochhaustürme, Friedhöfe, Straßen mit wandhohen Comics und kleinen Händlern.
Stoff für neue Städte
Seit fast einem Jahrhundert wird die Malerei Japans durch eine tiefe Kluft zwischen der Modernisierung des traditionellen Nihonga- Stils und den zeitgenössischen Formen, die als „westlich“ gelten, gespalten. Fotografie und Film beziehen dagegen aus dem Konflikt zwischen Tradition und Moderne den Stoff ihrer Geschichten. Dazu gehört der Zerfall in unterschiedlichen Wertesysteme ebenso wie das Nebeneinander asynchroner Zeitströme und die Balance unterschiedlicher Zeichensysteme.
So fassen Toshio Shibata und Naoya Hatakyma, beide ausgebildete Maler, den Blick auf schmerzende Nahtstellen zwischen Technik und Natur in die ausgewogene Ästhetik der klassischen Landschaft. Über zehn Jahre hielt Shibata längs japanischer Autobahnen Stahlnetze, mächtige Waben aus Beton und in den Fels gehauene Becken fest. Seine großformatigen Schwarzweißfotos betonen die Monumentalität der architektonischen Eingriffe und thematisieren eine Verschmelzung, die kaum noch eine Trennung in „Natur“ und „Kultur“ zuläßt. Ebenso erscheinen die Kalksteinbrüche, Baggerseen und Halden, die Hatakyma überall in Japan aufgesucht hat, wie ein großartige zweite Landschaft, die an Ausgrabungsorte versunkener Städte erinnert. Hatakyma findet in der Kalkindustrie eine romantische Metapher: Der Kalk, gewonnen aus den Resten früheren Lebens, wird zum Baustoff neuer Städte. Der weiße Staub, der sich über Treppen, Maschinen und Räume legt, wird zu einem lichtdurchtränkten Pigment, das Gleichwertigkeit zwischen den Dingen erzeugt.
Je tiefer die Entfremdung zwischen Mensch und Natur, desto grotesker seine Versuche der Annäherung: Das zeigen Norio Kobayashis Streifzüge aus den Vororten Tokios: Da entsteht am Fuß eines Strommastes ein Haus, das ohne den Halt des Gerüsts wahrscheinlich zusammenklappen würde. Der Versuch, Wurzeln zu schlagen, hat nur bei den Azaleen längs der Auffahrt gefruchtet: Doch ihr leuchtendes Rot wirkt künstlicher denn je.
Seltsame Heilige
In einer Welt, die zunehmend vom Tokio-Effekt überwuchert wird, lassen Sato und Yamanaka emotionale Verluste aufscheinen. Manabu Yamanakas Portraits gelten Menschen, die an den Tauschgeschäften des Lebens nicht teilhaben. Der ehemalige Modefotograf begann 1985 in Tokio, Nagoya und Osaka, Wanderer am Rande der Gesellschaft aufzuspüren. Hier würden wir sie mit ihren Pappen, Umhängen aus Decken und Schichten zerrissener Kleidung als Obdachlose identifizieren. Doch aus ihren bärtigen, verwitterten Gesichtern, die fast nie lächeln, spricht etwas Ungewohntes. Yamananka sieht in ihnen den Geist der „Arhats“, asketische Wanderheilige des Buddhismus, die irdischen Begierden entsagten. Diese Vorstellung vom freiwilligen Verzicht beinhaltet einerseits eine Verklärung der Armut; andererseits löst sie die „Arhats“ in Yamanankas Bilder aus dem Status des Opfers.
Das Licht der Tag und Nacht geöffneten Einkaufszentren, beklagt Kohmoto, habe die Dunkelheit vertrieben: Erst die Schatten aber bringen die Schönheit zur Geltung. Tokihiro Sato, der von der Skulptur zu lichtgezeichneten Räumen in der Fotografie kam, taucht die Welt wieder in Dunkelheit. Wie Irrlichter tanzen in seinen Bildern helle Punkte auf den Spitzen der Klippen im Meer und den leeren Plätzen der Stadt. Sato, der einen dunklen Filter vor das Objektiv schiebt, um die Belichtungszeit zu verlängern, erzeugt die Lichtpunkte mit einem Spiegel, der das Sonnenlicht zurückwirft. Der geisterhafte Effekt beruht nicht auf Täuschung: Die Lichter bezeugen tatsächlich die Spuren von jemand, der da war und wieder gegangen ist. Katrin Bettina Müller
„Liquid Crystal Futures“. Zeitgenössische Fotografie aus Japan. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin, Oranienstr. 25, bis 1.März, tägl. 12–18.30, Katalog 40 DM.
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