Narziß zwischen den Welten

■ Premiere im Bremer Theater: Ovationen für Jules Massenets entrümpelten Schmachtfetzen „Werther“

Der französische Komponist Claude Debussy meinte über die Musik seines Kollegen Jules Massenet: „Es ist bekannt, von welchen nicht endenwollenden Schauern, Erregungen, Liebesausbrüchen diese Musik geschüttelt ist“, und Gabriel Fauré bescheinigte ihr „vulgäre Leidenschaften“. 1892 wurde Massenets „Drame Lyrique“ „Werther“ uraufgeführt und erlebte bis 1938 tausend Aufführungen, die Menschen trällerten die Melodien auf der Straße. Diese schöne und süffige Musik also, dazu als Grundlage des Librettos das Kultbuch des Sturm und Drang, das 1774 geschriebene „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang Goethe und noch dazu ein junger Regisseur, der zugibt, daß er keine Angst vor Pathos hat und es mag, wenn die „Leute im Publikum weinen“ (s. taz vom 22.2.96). Kann das alles zusammmen gutgehen? Es kann, wie die jüngste Inszenierung im Bremer Theater am Goetheplatz zeigte, die mit stehenden Ovationen endete. Denn der Regisseur Christoph Loy hat, um noch einmal mit Claude Debussy zu sprechen, den „musikalischen Geschichtsschreiber der weiblichen Seele“ ernst genommen, so ernst, daß es ihm gelungen ist, aus einem potentiellen Schmachtfetzen fast ein Psychogramm a la Strindberg zu machen.

Zunächst einmal eliminiert er alle Genreszenen und gestaltet aus dem äußeren Drama gleichsam ein inneres: Es gibt einige Monologe und vier große Dialoge. Loys dramaturgisches Mittel der szenischen Umsetzung ist ebenso einfach wie überzeugend: Stets –auch bei Monologen und Dialogen – sind die vier Hauptpersonen auf der Bühne, haben also als stumme Anwesende eine hohe psychologische Wirkung. Darüber hinaus erreicht der Regisseur durch unterschiedliche Tempi der Bewegungsabläufe – unter Mitarbeit der Choreographin Jacquline Davenport – ein permanentes Changieren zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Erzählen der Geschichte und gleichzeitiger Interpretation: Wenn Charlotte Werther zum zweiten Mal einen Korb gibt, springt sie nach hinten, um sich ihren Hochzeitskranz aufzusetzen. Oder Werther bedroht mit seiner Pistole erst einmal alle Personen. Oder Albert zieht Charlotte an der Hand vom toten Werther weg: Die bürgerliche Ordnung ist wieder hergestellt.

Für ein Stück, das sich derart an der Grenze zum Kitsch befindet, ist Loys Ansatz ein durch und durch überzeugender. Ein Ansatz, der die Zuschauer sogartig in das Bühnengeschehen zieht, der sogar den unsäglich langen Liebestod Werthers einigermaßen überstehen hilft und der die Geschichte aus einer beliebigen Privatheit herauszuholen in der Lage ist. Das Bühnenbild von Vincent Callara unterstützt die Regiekonzeption in einer Weise, als hätten Loy und Callara beides zusammen erfunden. Ein Eindruck, den man in der Oper selten genug hat. Es gibt einerseits als einzigen Raum so eine Art großbürgerliche Halle, die etwas Halluzinatorisches hat, es gibt andererseits den Ausblick auf ein reales Zimmer, eine Diaprojektion: auch hier wieder das häufig nicht unterscheidbare Ineinander von Realität und Fiktion.

Die Umsetzung in ein solch stringentes Bühnengeschehen gelingt allerdings nur durch die sängerschauspielerische Qualität der vier Protagonisten möglich. Der Regisseur hat bei der Titelfigur - dies muß einschränkend doch gesagt werden - das Hauptgewicht auf dessen Selbstverliebtheit gelegt, was bei Bruce Rankin leider zu so unglaubwürdigen Gesten führte wie der, daß Werther im ersten Akt zu neunzig Prozent die Hände in den Hosentaschen hatte, sich wütend durchs Haar fährt und mit den Füßen aufstampft. Erst im dritten Akt wird aus dem trotzigen und beleidigten Kerlchen ein dramatisch-narzistischer Werther. Der Finne Heikki Kilpeläinen als Geschäfts- und Ehemann Albert führt seinen Besitz Charlotte beklemmend vor, vorweggenommen ist die gesamte Ehemoral des neunzehnten Jahrhunderts. Die vierte im Bunde ist Birgit Binneweis als Charlottes spitz-vorwitzige Schwester Sophie, die eine eindeutige Beziehung zu Charlottes Mann Albert hat.

Und Charlotte selbst? Auch bei ihr ist Liebe mitnichten zu verzeichnen, sondern auf Grund von immer wieder gelesenen Briefen übersteigerte Erwartungen an eine erdachte Person. Den hysterischen Krankheitsgrad machte Fredrika Bissembourg erschütternd deutlich. Die gesangliche Leistung der neu engagierten amerikanischen Mezzosopranistin ist außerordentlich: eine große Stimme mit einer Nuancierungsfähigkeit, die ihr jeden Ausdruck erlaubt. Die anderen drei singen auf hohem Niveau, reichen aber an ihre Leistung nicht heran.

Das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung des neuen Kapellmeisters Rainer Mühlbach spielt präzise und gut, wenn auch so manche Feinheiten – zum Beispiel die zahlreichen „subito-piano-Stellen“ oder auch die raffinierten Instrumentationswechsel bei Harmonieveränderungen – noch zarter und geschmeidiger hätten sein können. „Werther“ von Jules Massenet wird Geschmackssache bleiben. Eine Aufführung dieser Qualität ist alles andere als eine fragwürdige Ausgrabung.

Ute Schalz-Laurenze

Nächste Aufführungen am 28. 2. und am 3.3., jeweils um 19.30 Uhr im Theater am Goetheplatz.