: Glücksentschlossen jubeln
Klein ist die Welt und will schließlich in Liebesgeschichten zusammenfinden: „Haben (oder nicht haben)“ von Laetitia Masson im Forum ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Das herausragende Spielfilmdebüt von Laetitia Masson beginnt wie ein Dokumentarfilm. Boulogne-sur-Mer. Die 26jährige Alice (Sandrine Kiberlain) arbeitet in einer Fischfabrik, das heißt, eigentlich ist sie gerade arbeitslos geworden und will ein neues Leben beginnen.
In langen Einstellungen sieht man die schlanke Heldin mit dem nervösen Giraffen-Hals, wie sie vor ihrer ehemaligen Arbeitsstelle auf den Bus wartet, wie sie ein letztes Mal unter der Dusche den Fischgestank loswerden will, wie sie kichernd mit ihrer besten Freundin auf einer Parkbank Champagner trinkt und den ersten Tag ihrer Arbeitslosigkeit feiert oder auf einem Sechziger-Jahre- Hinterhof mit schönen Teppichstangen ihrer Mutter erklärt, daß sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt habe.
Im Café trifft sie zufällig einen grauhaarigen Chef, bei dem sie sich vergeblich um eine neue Stelle beworben hatte und schläft mit ihm am Strand. Routiniert steckt er ihr ein bißchen Geld zu, und das ist alles eher unspektakulär, und wenn sich die Kamera dann einem jungen Mann in Lyon zuwendet, der an den Huren am Quai schüchtern vorbeischlendert, denkt man zunächst, daß ihre Geschichte als ein sympathisches Arbeitslosenschicksal unter vielen abgehandelt worden sei.
Authentisch verkorkst, herrlich konkret
Bruno (Arnaud Giovaninetti) wiederum ist ein vereinsamter arbeitsloser Bauarbeiter. Er sehnt sich nach Frauen und hat doch vor ihnen Angst, er begehrt sie und verachtet dabei sein Begehren. Frustriert kauft er sich eine Hure und ist nach der Viertelstunde, die er bei ihr ist, noch depremierter als zuvor. Er geht in ein Café, er ruft eine Ex-Freundin an, die ihn abweist. Verzweifelt rennt er durch die Straßen und fragt jede Frau, ob sie einen Kaffee mit ihm trinken wolle. Früher wollte er Fußballstar werden; jetzt fühlt er sich wie ein weißer Neger.
Schließlich landet er in dem Hotel, wo sein arabischer Freund arbeitet, der selbstbewußt dem Don- Juanismus frönt. Dort trifft er auch Alice an der Hotelbar, denn klein ist die Welt und will in Liebesgeschichten zusammenfinden, doch die brauchen ihre Zeit, wenn die Helden des Films so beschädigt sind wie in der echten Wirklichkeit.
Von unten her, in einer Mischung aus Angst und Gier, blickt Bruno Alice ständig an. Ihr gefällt der schüchterne Ex-Fußballer, und sie versucht, ein Gespräch zu beginnen. Doch er entzieht sich, weil er in ihrem Begehren das eigene widerfindet. Sie solle sich doch zu den Geschäftsleuten da hinten setzen, wenn sie was für die Nacht suche, sagt er.
Aber weil Liebe zwar kompliziert, doch nicht ganz unmöglich ist, lernen sie sich später dann besser kennen und sehen sich zusammen ein Fußballspiel an. Glücksentschlossen jubelt sie mit, wenn ein Tor fällt, auch wenn sie nicht weiß, wie Abseits funktioniert.
In der Stadionkneipe küssen sie sich. Unglücklich verliebt in sein Unglücklichsein, will er sie auf dem Männerklo ficken, damit sie seinem depressiven Frauenbild gleiche. Sie flieht und es dauert dann doch ein bißchen, bis sie sich schließlich finden. Selten sah man einen so authentisch verkorksten Männerhelden wie Bruno auf der Leinwand.
„Haben (oder nicht haben)“ ist sozusagen das genau beobachtete, engagierte Gegenstück zu dem ultraharten schwulen Serienkillerfilm „Frisk“. Während die sauber depressiv schockierenden American-Psycho-Sex-Metzeleien von „Frisk“ letztlich nur einen Diskurs voller Klischees über die Differenz zwischen sadistischen Phantasien und ihrer Realisierung bedienen, ist „Haben (oder nicht haben)“ konkret.
Mit großer Genauigkeit, amüsant und ohne einem billigen Oberklassenfeminismus zu verfallen, schildert der Film Klassen- und Geschlechterverhältnisse. „Für mich ist die wahre Antwort auf die Frage ‘Sein oder Nichtsein' „Haben oder Nichthaben'“, sagte die Regisseurin.
„En avoir (ou pas) — Haben (oder nicht haben)“, Frankreich 1995, 90 Minuten, Regie und Buch: Laetitia Masson, Kamera: Caroline Champetier, mit: Sandrine Kiberlain, Arnaud Giovaninetti, Roschdy Zem, Claire Denis und Jean-Michel Fete
Heute, um 20 Uhr im Arsenal
Klein ist die Welt und will schließlich in Liebesgeschichten zusammenfinden: „Haben (oder nicht haben)“ von Laetitia Masson im Forum
Von Detlef Kuhlbrodt
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