: Krebsforscher lassen Dampf ab
Auf dem 22. deutschen Krebskongreß in Berlin wurde viel geschimpft und gezetert. Enttäuschende Ergebnisse bei der Gentherapie. Onkologen setzen auf verbesserte Chemotherapie ■ Von Manfred Kriener
Die deutschen Krebsforscher und -ärzte sind frustriert. Während ihres fünftägigen 22. Krebskongresses in Berlin, der am Samstag zu Ende ging, machten sich Enttäuschung und Ärger in einem Maße Luft, das überraschte. Unter die Räder kamen nicht nur die international weit hinterherhinkende Arzneimittel-Entwicklung, die unterfinanzierte Krebsforschung, die veraltete und ineffiziente Gesundheitsstruktur, sondern auch die unzureichende Krebsverhütung und die „im Stand eines Dritte-Welt-Landes“ verharrende Krebsepidemiologie. Und da man so schön am Schimpfen war, wurden auch gleich noch die überzogenen Erwartungen an die Gentherapie gegeißelt und die schlechte Ausbildung der eigenen Zunft.
Nur über eines brauchen sich Ärzte und Forscher nicht beklagen: über mangelnde Arbeit. Die Zahl der Krebspatienten nimmt angesichts der veränderten Alterspyramide weiter zu. Jeder dritte Deutsche erkrankt an Krebs, jährlich etwa 350.000 Personen. 214.000 Kranke sind im Jahr 1993 an Krebs gestorben, davon allein 40.000 an Lungenkrebs, der häufigsten Erkrankungsform.
Exaktere Daten zur Krankheitsverteilung, Häufigkeit und zu regionalen Clustern sind bei der zweithäufigsten Todesursache aller Krankheiten nicht verfügbar. Nach rund 20jähriger Planung und heftigen datenschützerischen Orgien ist seit 1995 zwar ein Gesetz zum Aufbau eines Krebsregisters in Kraft, doch nach Ansicht des Kongreßpräsidenten Klaus Havemann werden noch einmal „mindestens zehn Jahre vergehen“, bis die ersten verläßlichen Daten vorliegen. Bis dahin bleibe die Bundesrepublik krebsepidemiologisches Entwicklungsland.
Auch ohne Krebsregister ist bekannt, daß der größte Killer die Zigarette ist. Nach WHO-Berechnungen sterben in der Bundesrepublik jährlich 112.000 Personen am Tabakrauch, darunter 70.000 an Krebs. Harald zur Hausen, Leiter des Heidelberger Krebsforschungszentrums, machte eine ungewöhnliche Rechnung auf. Bei jährlich 20 Milliarden Steuereinnahmen durch die Tabakindustrie bringt jeder Tabaktote 180.000 Mark in Waigels Steuerkasse. Daß ausgerechnet die Bundesrepublik gemeinsam mit Großbritannien das europaweite Werbeverbot fürs Rauchen in der EU zu Fall brachte, hat angesichts solcher Zahlen Methode und wurde mehrfach gerügt. Und noch immer gibt die EU für die Subvention des Tabakanbaus deutlich mehr Geld aus als für die gesamte Krebsforschung. Krebsverhütung adieu!
Um die Forschung ist es hierzulande auf vielen Feldern schlecht bestellt. Beispiel Medikamente- Entwicklung: „Seit 30 Jahren sind keine nennenswerten Wirkstoffentwicklungen auf dem Gebiet der Onkologie aus Deutschland mehr zu verzeichnen“, kritisierte die neugegründete „Arbeitsgruppe Wirkstoffe in der Onkologie“. Auch unter den 20 weltweit umsatzstärksten Krebsmitteln ist kein deutsches Präparat. Die einst gerühmte „Apotheke der Welt“ hat Sendepause, die großen Konzerne scheuten die Risiken und Geldausgaben, es fehle an Ideen und Perspektiven. Eine große Industrienation sei ethisch verpflichtet, neue Medikamente zu entwickeln.
Schlechte Noten erhielt die gesamte deutsche Krebsforschung auch von einer Frankfurter Studie, die den Gesamtetat hierzulande mit den Ausgaben der USA und den Niederlanden verglich. Ergebnis: letzter Platz. Die USA haben nach Berechnungen von Rainer Bredenkamp 1995 pro Kopf fünfmal soviel in die Krebsforschung investiert wie die Bundesrepublik, Holland fast das Doppelte. Mit dem jährlichen Etat der deutschen Krebsforschung von 648 Millionen Mark lassen sich nicht einmal zwei Jagdbomber bezahlen.
Immerhin: Die klinischen Daten haben sich für die Krebspatienten enorm verbessert. Zur Jahrhundertwende überlebten Krebskranke nur vereinzelt, zur Mitte dieses Jahrhunderts etwa zu 25 Prozent. Heute lebt fünf Jahre nach Diagnose-Stellung noch jeder zweite Krebspatient.
Weitere Hoffnung verspricht die verbesserte Chemotherapie. Neben neuen Zytostatika mit besserem Wirkprinzip sollen veränderte Anwendungsstrategien die Chancen der Patienten erhöhen. Koppelt man die Chemotherapie an eine Hyperthermie – lokale Erwärmung der Tumorregion auf 42 Grad –, wird der betroffene Körperabschnitt besser durchblutet. Folge: Die Medikamente „kommen besser an“, so der Berliner Krebsforscher Peter Schlag. Und noch eine andere Strategie wird immer öfter erprobt. Die Patienten werden v o r der Operation mit Zytostatika behandelt. Operiert man zuerst, löst man, so Schlag, mit der „Entnahme des Primärtumors einen Wachstumsschub bei den verborgenen Tochtergeschwülsten“ aus. Dieser Effekt werde durch eine Vorabchemotherapie gestoppt. Nach der Operation soll dann nochmals mit Bestrahlung und Zellgiften behandelt werden.
Die dritte Neuerung, die sogenannte Hochdosis-Therapie mit Zytostatika, ist noch immer auf einzelne Studien beschränkt. Sie hat aber, wie der Kölner Krebsspezialist Volker Diehl berichtete, „zu signifikant besseren Überlebensraten“ geführt. Vor der Behandlung werden die Blutstammzellen des Patienten „geerntet“, angereichert und in Stickstoff tiefgefroren. Während und nach der Chemotherapie, die neben den Krebszellen auch die gesunden Blutzellen abtötet, wird die Reserve aus dem Kühlschrank transplantiert. Auf diese Weise kann die Dosis der Zellgifte auf bis zu siebenfache Werte erhöht werden. Ohne Stammzellenübertragung könnte der Patient an einer einfachen Infektion sterben, da seine Immunabwehr zerstört ist.
In gewohnter Dialektik warnten die Ärzte vor übertriebenen Erwartungen, wiesen aber gleichzeitig darauf hin, daß vereinzelt selbst metastasierender Brustkrebs mit der Hochdosis-Therapie heilbar erscheine.
Selbstkritische Worte auch zur Gentherapie: Alle bisherigen klinischen Versuche seien enttäuschend verlaufen. Die Hauptprobleme: Es gelingt den Forschern nicht, ein Trägersystem (Gentaxi) zu entwickeln, das die Gene mit der notwendigen Konzentration an die Zielorte bringt und über längere Zeit aktiv hält. Weltweit sind inzwischen 185 Gentherapien angelaufen, von denen sich fast 90 Prozent mit Krebserkrankungen beschäftigen. In der Bundesrepublik, dies war fast nebenbei zu erfahren, sind vier klinische Versuche angelaufen, von denen bisher nur zwei, in Berlin und Freiburg, bekannt waren. In Ulm und Berlin sind zwei weitere Experimente mit sterbenskranken Krebspatienten zugelassen worden. Erste Erfolge seien aber frühestens „in zwei bis drei Jahren“ zu erwarten, so der Ulmer Gentherapeut Friedhelm Hermann.
Trotz der Rückschläge und einer neuen Ehrlichkeit im Umgang mit der Gentherapie hat sie nichts von ihrer Faszination auf die Ärzteschaft eingebüßt. Schon die Zahl von 600 Publikationen weltweit gegenüber 90 im Jahr 1990 zeigt den Einsatz von Manpower, Geld und Engagement. Auf die dramatischen Konsequenzen dieser Forschungsrichtung wies der Berliner Genetiker Jens Reich hin. In den USA, so Reich, häuften sich die Fälle vorsorglicher Brustamputationen bei Frauen, die Risikogene tragen und in Screenings ermittelt wurden. Friedhelm Hermann korrigierte Reich: „Nicht nur in den USA, auch bei uns.“
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