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Abgründe eines „lieben Menschen“

Thomas Rung ist weder der klassische Triebtäter noch ein Sadist. Trotzdem hat der 35jährige sechs Menschen brutal umgebracht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung halten heute ihre Plädoyers  ■ Von Barbara Bollwahn

Gibt es einen Mörder mit dem Charme eines Teddybären? Kann jemand, der sechs Menschen brutal ermordet hat, liebenswert sein? Der derzeit vor dem Landgericht verhandelte Fall gegen den 35jährigen Malergehilfen Thomas Rung ist nicht nur wegen der Vielzahl und der Brutalität der ihm zur Last gelegten Taten außergewöhnlich. Es ist der Angeklagte selbst, der viele Rätsel aufgibt.

Selbst für den Neurologen und Psychologen Wilfried Rasch, der als langjähriger Gerichtsgutachter mit Dutzenden von Gewaltverbrechern zu tun hatte, ist der „Fall Rung“ kein einfacher. Er sei nicht auf einen hochabnormen Täter getroffen, wie es zu erwarten gewesen wäre, sondern auf einen „erstaunlich normalen“ Menschen, bekannte der siebzigjährige Rasch.

Der 35jährige Rung ist weder der klassische Triebtäter mit sexuellen Perversionen noch ist er geisteskrank. Obwohl er zugibt, fünf Frauen und einen Mann brutal getötet zu haben, ist er kein Sadist. Seine Opfer mußten aus „praktischen“ Gründen sterben: Niemand sollte ihn identifizieren.

Zu groß war Rungs Angst, der bereits dreizehn Jahre wegen Raub und Vergewaltigung im Gefängnis gesessen hatte, wieder eingesperrt zu werden. Es ist seine „Normalität“, die ihm wahrscheinlich eine lebenslange Haftstrafe einbringen wird.

Vor Gericht ist nichts zu spüren von der Brutalität, mit der Thomas Rung fünf Frauen zwischen 22 und 77 Jahren brutal ausraubte, würgte, vergewaltigte, ertränkte oder mit Sand erstickte und seinen Stiefbruder umbrachte. Äußerlich ist er mit seinen 1,90 Meter Körpergröße und einhundert Kilogramm Gewicht zwar eine imposante Erscheinung. Doch seine dunkelbraunen Augen haben etwas Gutmütiges, fast kindlich Naives.

Eigentlich sei Rung ein „lieber Mensch“, stellt Rasch in seinem Gutachten fest. Daß er „trotz aller Normalität“ so erschreckend brutal gehandelt hat, ist für ihn „eine Rarität“. Als er dem Angeklagten im vollbesetzten Gerichtssaal einen „Teddybärcharme“ attestiert, geht ein empörtes Raunen durch die Zuschauerbänke. Rasch zog sich damit auch die Wut des Angeklagten zu.

Bei seiner Suche nach Gründen und Abgründen ist der Gutachter auf mehrere einschneidende Erlebnisse in Rungs Leben gestoßen. Als die Mutter die Familie verläßt, ist der Angeklagte zwei Jahre alt. Der Vater, ein gelernter Motorenschlosser und Trinker, holt eine Frau ins Haus, die statt eines Familienlebens ein hartes Regime führt. Die Stiefmutter behandelt Thomas Rung, seine fünf Schwestern und seinen Bruder streng und unnachsichtig. Kommt der Vater spät abends betrunken nach Hause, berichtet sie ihm von den Ungezogenheiten der Kinder, die dieser mit Prügel bestraft.

„Die Stiefmutter saß auf dem Thron. Sie war die Richterin“, erzählte der Angeklagte dem Gutachter. „Man muß sich das als schreckliches Ritual vorstellen“, so der Gutachter. Ein Ritual, das ebenso wie die vielen Jahre hinter Gitter nicht ohne Folgen bleiben konnte.

Doch der Angeklagte will davon nichts wissen. „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!“ unterbrach er den Gutachter mehrere Male während seines Vortrags. So als wolle er nicht hören, was vielleicht die Wahrheit ist. Daß sein Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn er als Kind eine richtige Erziehung genossen, wenn er mehr Zuneigung erfahren hätte.

Rung wirft Rasch auch Dinge vor, die dieser gar nicht behauptet. So hält ihm Rung vor, daß der Neurologe ihn in seinem schriftlichen Gutachten als „gefühlskalt“ beschrieben hätte. „Das ist erstaunlich“, sagt der Neurologe. „Das Wort kommt nicht vor.“

Es ist Rung selbst, der von Gefühlskälte spricht. „Im Knast wurde ich gefühlskalt“, sagt er. Rung stellt sich als Monster dar und will als solches behandelt werden. So hat er sich bei der Staatsanwaltschaft beschwert, daß er im Gefängnis mit „normalen Verbrechern“ einsitzen würde. Um sich von der Unterdrückung im Elternhaus zu befreien, war Rung bereits als Kind straffällig geworden. Mit 14 Jahren stand er zum ersten Mal vor Gericht, weil er Kinder grundlos provoziert und brutal ausgeraubt hatte. Die Schläge seines Vaters beeindruckten Rung mehr als die verhängte Arreststrafe.

Nach der achten Klasse verließ Rung die Schule und suchte sich auf einem Schrottplatz Arbeit. Als die Familie nach Niedersachsen zog, gab er diesen Job schweren Herzens auf. Der Vater hatte ihn dazu gedrängt. In dem kleinen Dorf in Niedersachsen fühlte sich Rung nicht wohl. Zwei Jahre später fuhr er mit einem geklauten Mofa zurück nach Berlin.

Die folgenden Jahre waren geprägt von ständigem Geldmangel, Alkoholgelagen und Jugendstrafen wegen Raubüberfällen und gefährlicher Körperverletzung. Auch als er Anfang der 80er Jahre Arbeit bei einem Autoteile-Vertrieb fand, verübte er diverse Raubüberfälle. In diese Zeit fällt auch sein erster Mord: 1983 tötete er aus Geldmangel seine Vermieterin. „Ich war schon ziemlich aufgeregt“, sagte Rung vor Gericht. „Zumal das mein erster Mord gewesen ist.“

Für diese Tat wurde damals ein Unschuldiger zu einer achtjährigen Jugendstrafe verurteilt. Ein schwacher Mann, der sich gegen die Überredungskünste und Verhörmethoden der Polizei nicht zur Wehr setzen konnte, gestand schließlich die Tat. Ein einzigartiger Justizirrtum. Derzeit wird noch geprüft, ob das Verfahren wieder aufgenommen wird.

Rung, der damals auch vernommen wurde, aber anscheinend kein schlechtes Gewissen hatte, gestand am dritten Verhandlungstag einen Mord, der als ungeklärt zu den Akten gelegt worden war. Im Herbst 1990 will er einen alten Mann in dessen Wohnung in Charlottenburg überfallen haben: „Nicht, daß da auch noch ein Unschuldiger verurteilt wird.“

Es waren meist Kleinigkeiten, die Rung zum Ausrasten brachten. „Rung ist schnell frustriert“, sagt der Gutachter. „Er ist emotional instabil.“ Auf Kritik reagiert er mit Gewalt. Als ihn sein Stiefbruder im Februar letzten Jahres auf sein Alkoholproblem ansprach, geriet Rung derart in Wut, daß er ihn würgte und anschließend in der Badewanne ertränkte. „Der hat mich einfach angekotzt“, ist Rungs lapidare Begründung.

Daß Rung Probleme hatte, normale sexuelle Beziehungen aufzubauen, hätte schon vor über zehn Jahren erkannt werden können. Doch als er im Oktober 1984 wegen drei versuchter und geglückter Vergewaltigungen zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, sind seine seelischen Probleme nicht erkannt worden. Rung kam in die Justizvollzugsanstalt Moabit. Dort fühlte er sich mißverstanden und ungerecht behandelt. Er war aggressiv und frustriert. Fünfeinhalb Jahre später wurde Rung wegen Körperverletzung verurteilt. Diesmal fiel er durch seinen Ordnungs- und Sauberkeitssinn auf und wurde nach fünf Monaten entlassen.

1990 schien sich für Rung für kurze Zeit das Blatt zu wenden. Er zog bei der Tochter seines Stiefbruders ein. Im Juli 1991 wurde er Vater. Stolz und glücklich sei er damals gewesen, erzählt Rung. Doch das Trinken gab er nicht auf. Erst 1992 wurde seine Alkoholabhängigkeit festgestellt. Trotz einer ambulanten Therapie trank Rung weiter. Anfang 1993 kam er wegen einer versuchten Vergewaltigung, die er im Vollrausch begangen hatte, in Untersuchungshaft. Die psychiatrischen Gutachter gingen von einer Schuldunfähigkeit infolge einer krankhaften seelischen Störung aus. Rung, der sich vor Gericht an viele seiner Taten trotz erheblichen Alkoholkonsums sehr detailliert erinnern konnte, machte damals erfolgreich einen absoluten Gedächtnisverlust geltend. Rung kam in die Karl-Bonhoeffer-Klinik und wurde im September 1994 mit einer „wunderbaren Entlassungsbestätigung“ (Rasch) als geheilt entlassen.

Gerichtsgutachter Rasch wies darauf hin, daß Rungs letzte beiden Taten vielleicht hätten verhindert werden können, wenn der Angeklagte wegen seiner seelischen Probleme und nicht wegen Alkohol behandelt worden wäre. „Es ging nur ums Saufen“, kritisiert Rasch seine Kollegen. Zweifelsfrei hätten die Tötungsdelikte eine „sexuelle Motivation“ gehabt, so Rasch. Rung habe Probleme gehabt, normale sexuelle Kontakte aufzubauen, deshalb habe er die Frauen, ob jung oder alt, bewußt vergewaltigt. „Ich faßte den Entschluß, die Frauen zu nehmen“, sagt Rung. Gutachter Rasch benutzt hierzu ein Wort, das er selbst als „unschön“ bezeichnet: Rung sei ein „asozialer Notzüchter“, bei dem Frauen zum reinen Sexualobjekt werden.

Wie sieht sich Rung selbst? „Ich bin kein Mensch, ich bin ein Ungeheuer“, hatte er sein umfangreiches Geständnis im März letzten Jahres eingeleitet. Er hatte seine Lebensbeichte unter der Bedingung angekündigt, daß er „seine Geschichte“ zuvor an eine Zeitschrift verkaufen könne. Außerdem soll ein privater Fernsehsender Rungs Lebensgeschichte verfilmen und er selbst ein Buch schreiben. Der Erlös solle seinem Sohn zugute kommen, das Geld aus dem Buch und aus dem Film den Angehörigen seiner Opfer.

„Ich bin ein Ganove“, hat Rung sein Bild von sich noch mal vor Gericht bekräftigt. „Er hat die Selbstdefinition eines Kriminellen übernommen“, sagt der Gutachter. Der Außenseiter Rung sei weitaus intelligenter, als er sich selbst darstellt. „Er hätte aus seinem Leben gerettet werden können“, meint Rasch. Und Rung wisse das. Seine verbalen Angriffe gegen den Gutachter seien Ausdruck dafür, daß er selbst das Gefühl habe, „um sein eigenes Leben gebracht worden zu sein“.

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