: Gerechtigkeit im zehnten Anlauf
Zu den ersten Opfern der NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg gehörten die Postler von Danzig. Ihr Richter und ihr Ankläger machten in der Bundesrepublik Karriere; die Postler haben erst jetzt eine Chance auf Rehabilitierung ■ Von Axel Kintzinger
In den Wohnungen zweier älterer Danziger Damen stapeln sich deutsche Justizakten. Ein über Jahre dauernder, reger Schriftverkehr mit Anwälten in Hamburg, mit Staatsanwaltschaften und Gerichten in Bremen und Lübeck, haben die Aktenordner anschwellen lassen. Aber unter diesen Papieren sind nur wenige, die Stefania Koziarowska und Henryka Flisykowska-Kledzik erfreut haben – die jüngsten. Darin unterrichtet sie ihr deutscher Anwalt, daß die jahrelangen Bemühungen nicht umsonst waren. Nun haben sie die berechtigte Hoffnung, daß ihren Vätern nach 57 Jahren in einem Wiederaufnahmeverfahren Gerechtigkeit widerfährt.
Diese taten bis 1939 als Postbeamte ihren Dienst in Danzig und wurden in einem Schauprozeß desselben Jahres zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Anklage lautete auf „Freischärlerei“.
Diese Justizgeschichte begann am 1. September 1939, dem ersten Tag des Zweiten Weltkrieges. Schon in den Monaten zuvor war das von den Nationalsozialisten angestimmte Heim-ins-Reich-Geschrei laut genug, um die polnische Minderheit in der Freien Stadt Danzig, eine Art UNO-Schutzzone der damaligen Zeit, in Angst und Schrecken zu versetzen. Feindbild Nummer eins war die Post. Sie unterstand polnischer Verwaltung, und die deutsche Mehrheit empfand die Uniformen ihrer Bediensteten sowie die Briefkästen in den Straßen als Provokation.
Die Postbeamten wußten um ihre gefährdete Situation. Schon ab April 1939 schmuggelten sie Gewehre in das Dienstgebäude am Heveliusplatz, um sich im Ernstfall zu verbarrikadieren.
Der Ernstfall trat in den frühen Morgenstunden des 1. September ein, kurz nachdem das deutsche Marineschulschiff „Schleswig- Holstein“ mit ihren Schüssen auf die Westerplatte den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte.
Polizeieinheiten, die von zu Hilfspolizisten ausgebildeten SA- und SS-Männern unterstützt wurden, griffen das Postgebäude, in dem sich 48 Personen befanden, mit schweren Waffen an.
Die Postverteidiger schossen zurück – stets in dem Bewußtsein, der Angriff sei unrechtmäßig und stelle den Höhepunkt der antipolnischen Ausschreitungen dar, unter denen sie seit langem zu leiden hatten. Immerhin trugen die deutschen Angreifer Polizeiuniformen. Daß seit mehreren Stunden Krieg war, konnten die Postler auch nicht wissen. Telefon- und Telegrafenverbindungen waren um vier Uhr morgens gekappt worden, den Strom hatten die Deutschen von außen abgeschaltet. Erst später griff die dem Oberkommando der 3. Armee unterstellte „Gruppe Eberhard“ mit noch schwereren militärischen Mitteln ein. Dadurch wendete sich das Blatt. In den späten Nachmittagsstunden kapitulierten die Besetzer. 38 Postler brachte man in eine von der Gestapo eingerichtete Sammelstelle, 16 Schwerverletzte lieferte man in Krankenhäuser ein.
Der Einsatz des Kommandos „Gruppe Eberhard“ kam den nationalsozialistischen Herrschern Danzigs im nachhinein gerade recht. Erbost über die heftige Gegenwehr der Polen und über ein Massaker, das polnische Truppen nach Kriegsbeginn an sogenannten Volksdeutschen begangen hatten, forderten die Spitzen des NS-Staates bis hin zu Adolf Hitler vehement die Todesstrafe für die Postler. Dazu mußte man das Kriegsrecht zur Anwendung bringen. Die Teilnahme militärischer Einheiten räumt, so die damalige juristische Version, den Angreifern den sogenannten Kombattantenstatus ein. Gegen sie hätten die Polen nicht ungestraft kämpfen dürfen. Sie wurden angeklagt, obwohl das deutsche Kriegsrecht erst nach dem 1. September 1939 in Danzig Gültigkeit erhielt und obgleich nicht geklärt wurde, ob die Postverteidiger überhaupt Kenntnis vom Kriegsausbruch hatten.
Die Anklage und das Urteil lauteten auf Freischärlerei. So sahen das zwei junge, karrierebewußte Juristen, die zur „Gruppe Eberhard“ gehörten: Dr. Kurt Bode, der später NS-Generalstaatsanwalt von Danzig werden sollte, und Dr. Hans-Werner Giesecke, der bis 1945 als Kriegsrichter tätig war. Bode fungierte in dem Prozeß als Vorsitzender Richter, Giesecke als anklagender Staatsanwalt. Sie machten mit den Überlebenden kurzen Prozeß. In einem nur wenige Stunden dauernden Verfahren, das nicht einmal ansatzweise den selbst damals geltenden Prozeßregeln entsprach, verurteilten sie die polnischen Postbeamten zum Tode. Die Hinrichtung wurde im Beisein von Bode rasch vollstreckt. Soldaten kippten die zu einer Erschießung zusammengetriebenen Gefangenen in ein eigens für sie ausgehobenes Massengrab. Erst 1991 stießen Bauleute bei Ausgrabungsarbeiten auf die Gebeine der Ermordeten.
Jurist Bode hatte sich im NS- Reich schnell auf die Seite der Mächtigen gestellt. Schon am 1. Mai 1933 trat er der NSDAP bei, wurde danach Mitglied im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund sowie in drei anderen Naziverbänden. Ab 1938 fungierte der Mann als Vizepräsident des OLG Danzig. Am 1. Februar 1942 erfolgte seine Ernennung zum Generalstaatsanwalt. Aus seiner Zeit als Generalstaatsanwalt stammen Anklageschriften, in denen häufig die Todesstrafe verlangt wurde. In Bodes dreijähriger Amtszeit verhängte die Justiz in Danzig etwa 350 Todesurteile, die allesamt über seinen Schreibtisch gingen.
Giesecke, 1907 geboren, begann seine juristische Karriere 1933 als Hilfsrichter in Thüringen. Ab 1935 wirkte er im Heeresjustizdienst, dem er bis zum 15. April 1945 angehörte, zuletzt als Oberfeldrichter. Als Kriegsrichter hatte Giesecke es mit Deserteuren zu tun, die er zum Tode verurteilte. Von acht Soldaten, die ihrer Einheit 1941 zehn Autoreifen gestohlen hatten, ließ Giesecke vier hinrichten.
Nur wenige Jahre nach Kriegsende begannen Bode und Giesecke, ihre Justizkarriere in der Bundesrepublik Deutschland fortzusetzen. Ohne Probleme passierte Bode das Entnazifizierungsverfahren. Viele Dokumente seines grauenvollen Schaffens gingen während der Bombenhagel in Flammen auf, andere lagerten in irgendwelchen Archiven hinter dem Eisernen Vorhang. Innerhalb von nur fünf Wochen sammelte Bode 1949 neun „Persilscheine“; die meisten kamen von Juristen, die ähnlich belastet waren wie er selbst. Zwei der Entlastungsschreiber waren zwischen 1925 und 1936 selbst Präsidenten des Danziger Oberlandesgerichts gewesen. Viele von ihnen starteten auch nach dem Zusammenbruch ihres Reiches voll durch: als Senatspräsident beim OLG Frankfurt, als Erster Staatsanwalt in Lübeck oder als Oberregierungsrat in Wittlich.
Sie bestätigten ihm „hervorragende Charaktereigenschaften“ und „überragende Leistungen“. Die Täter in den schwarzen Roben schoben sich im Nachkriegsdeutschland nicht nur gegenseitig „Persilscheine“, sondern später auch Posten zu. So beförderten Bodes braune Kumpel den früheren Danziger Generalstaatsanwalt und Terrorrichter 1955 zum Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Bremen. 1960 entließ man Bode, nun 65 Jahre alt, in den Ruhestand. Er verstarb, bis zuletzt unbehelligt, am 21. 12. 1979.
Hans-Werner Giesecke hatte ein wenig mehr Mühe, wieder in den Staatsdienst zu kommen. Das Justizministerium in Hessen, wohin es ihn nach dem Krieg verschlagen hatte, war an der Spitze mit einem Juristen anderen Kalibers besetzt: Georg August Zinn, gleichzeitig auch Ministerpräsident des Landes, war als Rechtsanwalt von den Nazis verfolgt und mehrfach inhaftiert worden. Dem Streben eines vorherigen Kriegsrichters stand man zumindest anfänglich distanziert gegenüber.
Dennoch: Am 16. 7. 1949 begann Giesecke in Frankfurt/Main als Hilfsstaatsanwalt, um schon vier Wochen später als Staatsanwalt zu wirken. Von nun an ging's bergauf. Ab Februar 1951 war der furchtbare Jurist Erster Staatsanwalt und damit Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Frankfurt, der größten in Hessen – mit den Privilegien eines Beamten auf Lebenszeit inklusive. Und schon 1954 wurde Giesecke Direktor des Landgerichts. Er ist, anders als sein Danziger Kollege Bode, nicht von alten Naziseilschaften protegiert worden. Giesecke hatte seinen Lebenslauf frisiert und profitierte dabei vom kriegs- und teilungsbedingten Verlust zahlloser belastender Akten. Auch die Enthüllung eines seiner Todesurteile blieb folgenlos. Bis zu seiner Pensionierung 1971 fungierte Giesecke als Landgerichtsdirektor und starb kurz darauf.
Heute steigen die Chancen auf eine Rehabilitierung der hingerichteten Postverteidiger. Denn es gibt neue, bislang unbekannte Dokumente, die die Rechtsauffassung der Postverteidiger stützen und die politisch motivierte Konstruktion der Anklage verdeutlichen. Ausgegraben und veröffentlicht hat sie ein ehemaliger Polizist: Dieter Schenk, 58, bis 1989 Kriminaldirektor in der Stabsstelle des Bundeskriminalamts. Er recherchierte monatelang in ostdeutschen und polnischen Archiven, suchte Angehörige und Augenzeugen auf.*
Mit Hilfe dieser Erkenntnisse ergibt sich nun, im mittlerweile zehnten Anlauf, die erstmals realistische Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens.
Die diesbezüglichen Anträge von Henryka Flisykowska-Kledzik und Stefania Koziarowska hat die Staatsanwaltschaft Lübeck jetzt für zulässig erklärt. Das ist auf dem komplizierten Terrain der Wiederaufnahme eines Prozesses, da sind sich Juristen einig, die halbe Miete.
Hans-Jürgen Groth, Anwalt von Stefania Koziarowska, ist angesichts der jüngsten Entscheidung aus Lübeck optimistisch gestimmt: „Man hätte sich ja sonst die Mühe sparen und den Auftrag für unzulässig erklären können.“
Genau so verfuhren deutsche Gerichte bisher in dieser Sache. Typisch war schon die Reaktion auf den ersten Vorstoß von Kazimir Aloysius R., dessen Vater zu den hingerichteten Postverteidigern gehörte. Als er sich im April 1960 mit einer Strafanzeige gegen Bode wegen des Verdachts auf Mord an die Justiz wandte, stellte die zuständige Bremer Staatsanwaltschaft das Verfahren ein, ohne den Beschuldigten überhaupt angehört zu haben. „Eine Liste von Zeugen“, recherchierte Schenk, „ließ man unbeachtet.“
Erst auf nachhaltigen Druck eines Hamburger Anwalts nahm man die Ermittlungen kurzzeitig wieder auf und verhörte den ehemaligen General Eberhard sowie den damaligen Polizeioberst Bethke. Beide sagten aus, die Erstürmung der Post sei kein polizeilicher Einsatz gewesen. Mit dieser Erklärung der NS-Täter gab man sich zufrieden – die Todesurteile von Bode und Giesecke hatten danach weiter Bestand.
Giesecke übrigens stuften die Bremer Staatsanwälte lediglich als Zeugen ein. Angenehme Folge für den Exkriegsrichter: Ermittlungsschritte wie etwa eine Hausdurchsuchung waren gegen ihn als Zeugen nun viel schwieriger anzuordnen. Die Verbeugung vor den Juristen Bode und Giesecke hält in manchen Milieus bis heute an. So mußte Autor Schenk sich in einer Rezension seines Buches von der FAZ anrempeln lassen: „Die Objektivität seiner Darstellung“, hieß es dort spitz, werde „durch die unnötige fortgesetzte und kleinliche Schlechtmachung der Titelfiguren beeinträchtigt.“
Wie der beklagte Eindruck bei der Beschreibung von Menschen, deren Karriere von Leichen gepflastert ist, hätte vermieden werden können, verrät das Frankfurter Blatt nicht.
*Dieter Schenk: „Die Post von Danzig – Geschichte eines deutschen Justizmords“, Rowohlt, 45 DM
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