piwik no script img

Wenn die Kleinen den Großen helfen sollen

Schülernotstand: In Brandenburger Grundschulen werden Altersstufen zusammengelegt  ■ Aus Berlin Silke Stuck

Jessica ist flink. Gerade muß sie sich zwischen V und F als Anfangsbuchstaben für Vogel entscheiden. „Is' ja leicht!“ ruft sie und kritzelt ihre Lösung in ausladender Schrift in den Lückentext auf ihrem Blatt. Die beiden Klassenkameradinnen neben Jessica sind ein Jahr älter als sie und riskieren den Blick auf Jessicas fertige Aufgaben.

Daß die Kleinen manchmal den Großen zeigen, wo es langgeht, ist Alltag in der Grundschule Protzen im Kreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg. Seit zwei Jahren gehen die 22 Steppkes nicht mehr in die zweite oder dritte Klasse, sondern eben gemeinsam in die 2/3b. Es gibt außerdem noch eine Klasse, die aus zwei Altersstufen zusammengesetzt wurde. Das ist nicht etwa die Idee progressiver PädagogInnen, sondern das Ergebnis des Schülernotstands im ländlichen Raum Brandenburgs.

Der Geburtenknick der Nachwendezeit macht sich jetzt bemerkbar. Was kleine westdeutsche Bundesländer in den siebziger Jahren erlebten, wird den neuen Bundesländern in den nächsten zwei Jahren widerfahren. Brandenburg bekommt die Auswirkungen bereits jetzt zu spüren: Dort wächst keine Schülergeneration nach, und die Bildungspolitik muß reagieren. Im Jahr 2005 rechnet das Bildungsministerium mit gerade mal 90.000 Schülern in den Klassenstufen 1 bis 6, zur Zeit sind es noch 225.000. Und zur Einschulung werden 200 der 650 Brandenburger Grundschulen dann zum Teil weniger als 15 Neuanfänger begrüßen können.

„Das Organisationsprinzip der Jahrgangsklasse wird dadurch aufgehoben werden müssen, weil niemand einen Lehrer für eine Klasse mit 10 Schülern finanzieren wird“, sagt Jeanette Lamble, Pressesprecherin des brandenburgischen Bildungsministeriums. Um der Gefahr eines Rückschritts in bildungspolitische Steinzeiten vorzubeugen, hat das Ministerium das Modellprojekt „Kleine Grundschulen“ ins Leben gerufen.

Seit Anfang des Jahres werden acht Brandenburger Minischulen mit einer Million Mark gemeinsam von Bund und Land unterstützt. Die finanzielle Spritze sichert das Überleben der Schulen zumindest für die kommenden zwei Jahre. In dieser Zeit werden sämtliche Möglichkeiten für einen pädagogisch wertvollen jahrgangsübergreifenden Unterricht ausprobiert.

Unterricht auf dem Land muß gesichert werden

„Wir messen dem Modellversuch eine hohe politische Bedeutung bei, da einerseits Arbeitsplatzsicherung betrieben wird, andererseits die Schule als gesellschaftlich wichtiger Ort auch in dünnbesiedelten Gebieten ernst genommen werden muß. Die Grundschüler dürfen nicht unendlich lange Wege in Kauf nehmen, um zu ihrer Schule zu gelangen, und brauchen die soziale Anbindung an die Ortschaft“, so Lamble.

Zur Zeit befinden sich die Brandenburger Modellschulen noch in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. In der mit 207 Schülern größten der acht Schulen, der Grundschule Großschönebeck im Kreis Barnim, findet wahrscheinlich noch bis zum nächsten Jahr „geregelter“ Unterricht statt, lediglich einmal pro Woche treffen sich die Schüler zu einem klassenübergreifenden Projekt. „Für uns war die Tendenz abzusehen, daß im nächsten Jahr der Knick kommt, deshalb nehmen wir an dem Modellversuch teil“, erklärt Schulleiterin Petra Stohr.

Auch in Missen (Kreis Oberspreewald-Lausitz) wurde die Teilnahme am Modellversuch zunächst als eine vorbeugende Maßnahme angesehen, aber schon ab März wird dort eine Gruppe aus der dritten und vierten Klasse gemeinsam in Deutsch unterrichtet.

Die Protzener Lehranstalt mit ihren 118 Schülern ist Vorreiter in Sachen Minischule. Doch ihre Perspektive nach der Modellphase ist genauso ungewiß wie an den anderen Schulen auch. „Alles hängt am Geld“, sagt Schuldirektor Jörg Lettow. Denn ob das zuständige Schulamt Fehrbellin seine 8,5 Lehrerstellen nach 1998 weiter finanzieren wird, steht in den Sternen. Wichtig für ihn und seine Zwerge wäre jetzt ein Passus im Schulgesetz, der den Unterricht auch unter der festgesetzten Klassenfrequenz von mindestens 15 Schülern ermöglichen würde.

Anfängliche Skepsis von Eltern und auch manchen Lehrern, die die Minischule in erster Linie mit den Zwergschulen der Jahrhundertwende verglichen, konnte von den Protzener Modellklassen verscheucht werden. Auch die beiden Lehrerinnen Jutta Steiner und Ilona Drietchen, die gemeinsam die 2/3b unterrichten, sehen in der altersgemischten Gruppe viele Vorteile: „Die Kinder üben Solidarität und Hilfsbereitschaft und können von der Gruppe auch für ihr Wissen nur profitieren. Bei uns steht das soziale Lernen im Vordergrund.“

Die kleine Jessica platzt fast vor Stolz, als Frau Steiner sie vor „den beiden Großen“ lobt. Die Schüler finden die Gruppenarbeit „schau“, und sie kommen mit dem Altersunterschied sichtlich gut klar. In manchen Stunden zeigt sich dann aber doch, wer in welcher Klasse ist: „Dann teilt Frau Steiner unterschiedliche Bögen aus. Für die von der dritten Klasse die schweren und für die von der zweiten die leichteren“, erzählen sie ganz beiläufig. So normal kann Minischule sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen