: Auf eigene Faust
Schwitzende Jugendliche aller Volksgruppen trainieren den Kampf. Erst im Ring verstehen sie sich. ■ Aus London Martin Glauert
Der Backsteinbau hat bessere Zeiten gesehen. Die Scheiben sind geborsten, die Türen mit Gittern verbarrikadiert, der Eingang ist mit Müll zugeschüttet. Kein Schild, keine Klingel. Die Hintertür läßt sich öffnen. Ein dunkler Flur führt zu einer Schwingtür – und plötzlich steht der erstaunte Besucher mitten im Trainingsraum. Lautes Stimmengewirr kommt von allen Seiten, feuchte Wärme und Schweißgeruch stehen in der Luft. Dies hier ist also einer der besten Boxclubs Londons. In der Mitte des Raumes ist der Ring aufgebaut, darin tänzelt ein schwarzer Boxer um seinen Trainer und teilt gezielte Schläge auf die roten paddles aus, die der ihm vor die Nase hält.
Um den Ring herum schlagen Jungs auf schwere Sandsäcke ein, andere stehen nebeneinander vor einem wandgroßen Spiegel und boxen gegen ihr eigenes Spiegelbild. Inmitten der schwitzenden und kämpfenden Männer steht ein hagerer Mann in Straßenhose und Jackett. Es ist Tony Burns, der Leiter des Repton Boys Club. Er hat alle seine Jungs im Auge, gibt Anweisungen und Vorschläge, redet mit Trainern und Besuchern und vor allem mit seinen Jungs, die am kommenden Wochenende im Turnier kämpfen werden.
Die vielen Hautfarben in diesem Raum sind ein Spiegelbild der Welt draußen. Das East End ist von jeher Einwandererviertel gewesen. Hier war Arbeit, hier wohnten Landsleute, die die neuen Ankömmlinge auffingen und ihnen fürs erste weiterhalfen. Den Einwanderern boten diese Nachbarschaften Hilfe und Halt in einer fremden und oft auch feindlichen Umgebung. Jüdische Flüchtlinge aus Rußland und Polen fanden leibliche und spirituelle Nahrung in öffentlichen Suppenküchen und dunklen Hinterhofsynagogen. Irische Arbeiter sangen sich in verrauchten Kneipen ihr Heimweh von der Seele, Moscheen und Koranschulen boten den Muslimen aus den entfernten Kolonien des britischen Empire religiösen Halt inmitten einer Welt der Ungläubigen. Von den einheimischen Briten oft als lästiges soziales Strandgut betrachtet, als „Navvies“ und „Pakkies“ beschimpft und verachtet, retteten die Einwanderer ihren Stolz und ihre Würde über eine verstärkte Identifikation mit ihrer Herkunft und Religion. Diese Trotzreaktion zeigt längst ihren häßlichen Januskopf. Was als nachbarschaftlicher und religiöser Zusammenhalt begann, hat sich im Lauf der Jahre zu Mißtrauen gegen die jeweils anderen gesteigert und zu Absonderung und Ghettobildung der einzelnen Volksgruppen geführt.
Nur im Repton Boys Club treffen sich regelmäßig die Jungs aus der ganzen Nachbarschaft, vom Dreikäsehoch bis zum Halbstarken. Der weiße Brite mit dem Union Jack auf seiner gelben Strickmütze schlägt wild auf den Ledersack ein, während neben ihm ein schwarzer Muslim geschickt den Punchingball traktiert. Das gemeinsame Boxen und der Stolz auf ihren Verein verschütten die Gräben zwischen den verschiedenen Kasten, Volksgruppen und Religionen. Der Umgang miteinander ist normal, und das ist schon ungewöhnlich. Draußen nämlich formieren sich die Hindus, Muslime, Briten und all die unterschiedlichen Einwanderer streng nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Jugendgangs, die ihr Terrain auch mit Gewalt abstecken. „Es wäre zuviel verlangt, würde man erwarten, daß die Jungs auch draußen zusammenhalten“, brummt Tony Burns, „es ist schon viel erreicht, wenn sie sich auf der Straße nicht mehr gegenseitig auf die Nase hauen.“
Mittwochabend ist Kinderstunde. Schon Fünfjährige kommen hierher und toben mit ihren Spielkameraden herum. Es herrscht ein noch lauteres Schreien und Krähen als sonst. Die Kleinen turnen an den Geräten, spielen Ball und üben Seilspringen. Wie die Großen stemmen sie stolz Hanteln und Gewichte und protzen mit unsichtbaren Muskelpaketen. Viele haben ältere Brüder, die schon länger im Club boxen, und möchten genauso werden wie die bewunderten Geschwister. Der schmächtige Marwan wird in der Schule ständig drangsaliert, erst gestern hat er seinen Walkman herausrücken müssen, sonst hätten sie ihn in die Mangel genommen. Das ist er nun leid: Er will boxen lernen.
In den Ring dürfen die Jungen aber erst mit elf Jahren steigen, für die meisten ein Augenblick, auf den sie lange sehnlich gewartet haben. Der Trainer erklärt ihnen die Regeln und achtet darauf, daß keiner in der Hitze des Gefechts verletzt wird. Auf den Holzbänken an der Wand sitzen die Eltern und schauen zu, wie ihre Sprößlinge kämpfen. Manch einer Mutter stehen die Tränen in den Augen, wenn ihr Kleiner eins auf die Nase kriegt; spricht man sie darauf an, behaupten sie allerdings, das mache ihnen nichts aus. „Sie lernen, sich zu verteidigen, und das ist wichtig heute.“
Der Repton Boys Club ist ein Treffpunkt, einer der wenigen Sportclubs im East End, der den Sparplänen der Stadtverwaltung noch nicht zum Opfer gefallen ist. Die Straßen der Nachbarschaft sind ausgestorben und desolat. Hier ist nichts von dem „singing, swinging London“ der Reiseprospekte zu sehen, das East End ist das „sinking, stinking London“, um das Fremde meist einen großen Bogen machen. Londons Hafenviertel ist seit dem Weltkrieg nicht mehr richtig auf die Beine gekommen. Arbeitslosigkeit und Armut haben sich festgebissen und der Gegend ihren tristen Stempel aufgedrückt. Die niedrigen Reihenhäuser sind rußig, die Mehrzahl der kleinen Läden steht leer, die Schaufenster sind mit Brettern vernagelt. In den Seitenstraßen vergammelt Müll, Autoreifen schwelen vor sich hin. Dieses Viertel schenkt seinen Kindern nichts. Wo die Alten froh sind, wenn sie selbst über die Runden kommen, wo Spielplätze und Jugendclubs Fremdwörter sind, da lernen die Jugendlichen früh, sich im Leben durchzuboxen. Und manche eben nach allen Regeln der Kunst.
Der Repton Boys Club ist eine Gelegenheit, selbst einmal richtig auszuteilen. Tony Burns ist stolz darauf, daß der Club schon viele Jungen vor Kriminalität und Drogensucht gerettet hat, in die sie abzusinken drohten. Sozialarbeiter und Bewährungshelfer halten engen Kontakt zum Verein und springen sofort ein, wenn sie gebraucht werden sollten.
Damit knüpft der Club an seine Wurzeln an, die nun schon 110 Jahre zurückreichen. 1884 wurde in dem kleinen Dorf Repton in Derbyshire eine renommierte private school für die Sprößlinge der gehobenen Gesellschaft gegründet, eine Eliteschmiede für die Universitäten Cambridge und Oxford. Daneben aber erfüllte sie das philanthropische Selbstverständnis der damaligen Upperclass und betrieb christliche Mission im East End. Das Bestreben, die proletarischen Seelen aus diesem Sündenpfuhl Londons zu bekehren und ihnen Zivilisation und Bildung zu bescheren, führte zur Gründung von Jugendkreisen, in denen zunehmend auch lustvollere Betätigungen stattfanden. So mauserte sich der Bildungszirkel zum Tanzverein, und daraus entstand schließlich der Boxclub.
In der Trainingshalle lehnt Michael schwitzend und müde an der Wand und ruht sich vom Sparring aus. Ob er das Boxen für den Straßenkampf lernt, will ich wissen und ernte prompt ein herzliches Gelächter. „Da draußen herrschen inzwischen ganz andere Sitten, Mann! Schon die Kids haben Messer und stechen sie in dich rein. Da sprechen Revolver und Pistolen, mit Boxen kannst du da überhaupt nichts mehr reißen!“ Nicht für den Straßenkampf trainiert Tony Burns seine Jungs, sondern fit for the fight in society will er sie machen, für die Auseinandersetzung in der Gesellschaft, in der Geschäftswelt. Der Plan geht erstaunlich gut auf. Gerade in den 60er und 70er Jahren gingen viele von den Heranwachsenden aus dem Club ins Finanzwesen, wurden Bankangestellte und Börsenmakler. John McBride ist einer von ihnen. Eines Tages tauchte er als gelangweilter Rumtreiber im Club auf, hing eine Weile in den Ecken rum, fing schließlich an zu boxen und fand Spaß an der Sache. Heute arbeitet er als Makler für die größte US-Agentur in London und kommt noch immer zu einem Sparring vorbei, wenn er Zeit dazu findet. Nicht immer freilich geht die Geschichte so glücklich aus. Einige von Tonys Schützlingen sind im Knast gelandet. Selbst die berüchtigten Kray-Zwillingsbrüder, die in den 50er Jahren das East End in ein britisches Chicago verwandelten, haben als kleine Jungs im Repton Boys Club ihre Fäuste geschwungen. Noch heute besucht Tony sie alle vier Wochen im Gefängnis, wo sie ihre lebenslange Haftstrafe absitzen.
Tony Burns war selbst ein ganz guter Boxer. Allerdings blieb er immer Amateur. „Profiboxen ist kein Sport“, meint er und nimmt einen tiefen Zug aus der Zigarette, „sondern ein Geschäft.“ Es ist seine Freizeit, die er damit verbringt, den Jungs aus der Nachbarschaft das Boxen beizubringen. Und sie boxen gut. Pokale und Urkunden, Plakate und Fotos von großen Fights bedecken die Wände im Trainingsraum. Sogar drei Profiweltmeister hat der Club hervorgebracht. Einer von ihnen ist John Stracey, der auf der Ringkante sitzt und mit den Beinen baumelt. Das blaue Auge hat er sich im Sparring geholt, denn er trainiert den Nachwuchs für das kommende Europaturnier. Der Wunsch, selbst einmal Champion zu werden, steckt wohl in den meisten der Jungs, wenn sie in den Ring steigen und der Gong ertönt.
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