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■ Interregio statt ICE: Billiger, aber auch viel gefährlicherGenervt, bestohlen, halb erfroren

Mit dem Interregio fahren heißt leiden lernen: Wer in den unklimatisierten D-Zug-Waggons reist, muß verblödet, verarmt oder masochistisch veranlagt sein. Ich zum Beispiel. Zwar kommen Tapfere auf einen Stundenlohn von zehn Mark zwischen Frankfurt und Hamburg, wenn sie den Bummelzug der Rohrpost ICE vorziehen, weil der 15 Mark teurer und anderthalb Stunden schneller ist. Dieses Geld aber ist hart verdient.

Klar, am Freitag nachmittag wollen alle schnell weg, der Marmorbahnsteig des ICE quillt über. Ich schlendere zum Zeitungskiosk und dann zum menschenleeren Perron, mein Interregio hat Verspätung. Macht nichts, ich habe mir ja vorgenommen, Zeit zu haben und Landschaft gucken zu wollen.

Mein Zug ist fast leer, dafür hat die alte Dame im Abteil viele Beutel und Koffer. Daß sie innerhalb von 12 Minuten zum drittenmal erzählt hat, daß sie aus einem Altenstift bei Heilbronn kommt (entwischt ist?) und daß ihre Tochter sie in Göttingen abholt, ist weniger schlimm als der Umstand, daß ihre Stofftaschen anfangen, vom Gepäcknetz aus in mein Genick zu nässen. „Tiefkühlkost! E bissele Proviant halt.“ Kein Problem, es sind ja noch drei Plätze frei. Hätte ich ihr nicht versprochen, in zwei Stunden beim Ausladen zu helfen, ich wäre längst verschwunden. So leide ich lächelnd unter ihren Geschichtle vom Enkele und vermisse immer dringender die Kopfhörerbuchsen aus dem ICE. Kurz vor Marburg fliehe ich aus dem Abteil, genieße Zugluft und Ausblick.

Als ich irgendwo in Nordhessen in den Verschlag zurückkomme, sind zwei Frauen zu uns gestoßen. Die eine um die Zwanzig, die andere über fünfzig. Beide lesen Wochenzeitung, beide die gleiche, sieh mal da: Genau jene, die ich auch vorhin gekauft hatte. Gute Idee, denke ich, ein wenig lesen, wo ist denn meine? Ich krame in der Hutablage. Vielleicht hat eine der beiden ...? „Entschuldigung“, räuspere ich mich, „könnte es sein, daß Sie versehentlich meine Zeitung ...“ Synchrones Kopfschütteln: „Nein, nein“, rechtfertigt sich die ältere viel zu laut, sie habe – „wie immer“ – die ihre im Marburger Hauptbahnhof gekauft, und die jüngere stimmt zu: „Ich auch!“ Eine lügt. „Meine Damen, ich bin sicher, daß es meine Zeitung war, die da in der Hutablage ...“ – Keine Reaktion. Frauensoli pur.

Bei mir herrscht zeitungslose Langeweile und stiller Zorn: Diese zwei, was sag ich: drei Weiber, Komplizinnen womöglich. Was tun? Den Schaffner herbeirufen? Oder aufgeben, das hieße, in Kassel doch noch in den knallvollen, den teuren ICE umsteigen?

Nein, nein, nicht mit mir! Euch kriege ich! Ich bleibe und gehe sämtliche listigen Fabeln durch, die mir einfallen. Keine paßt. Wer spielt den Fuchs, ist meine Zeitung ein Käse, sitze am Ende ich selbst in der Falle? Im Tunnel zwischen Kassel und Göttingen, ohne Druckausgleich und im eiskalten Luftzug der D-Zug-Toilette, vergeht mir der letzte Mut. Kauernd denke ich ein letztes Mal halblaut nach: Einer von beiden die Zeitung entreißen, egal welcher ..., dann müßten sie sich offenbaren, würden sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigen – und ich könnte fliehen, und zwar mit Zeitung! Nach zwanzig Minuten Klohocken habe ich den Schlachtplan im Kopf und komme schlotternd ins Abteil zurück: Es ist stickig, aber warm, beide Diebinnen lächeln kurz auf, bieten mir Feuilleton und Wirtschaftsteil an. Zack! Meine Ideen sind zerstoben. Gong. Aus. Ende.

Endlich steigt die Alte aus „Adele, junger Mann!“ – Erst in gut zwei Stunden bin ich in Hamburg, allein im Bummelzugabteil mit zwei fiesen Diebinnen. Vielleicht bringe ich sie ja noch um. Die eine kurz vor Northeim, die andere in Uelzen. Alf Haubitz

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