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Lerne, dich ohne Panzer zu bewegen

■ In der U-Bahn schaut man weg, im Theater kann man hinsehen: Das Berliner Obdachlosentheater RATTEN07 wird solidarisch gefeiert oder als Underdog-Erscheinung gefürchtet. Jetzt werden die RATTEN...

Erste Begegnung mit den RATTEN07 für einen Premierenbericht über „Woyzeck“ vor einem Jahr in Berlin. Nach zwei Minuten: ein Heiratsantrag, ich gerate aus dem Konzept. Mit Lust an der Provokation wird die Rollenverteilung gebrochen. Wehe der, die sich dieser Theatergruppe mit den üblichen Fragen nähert. Die RATTEN zeigen keinen „guten Willen“: „Draußen steht ein Kreuz, wir können's auch reinholen.“

Hunni, Rolf, Thommes, Lenin, Monster, Heinz, Abel und Charly sind die RATTEN. Ein eingetragener Verein seit Ende 1992 und seit 1993 lose mit Frank Castorfs Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz verbunden. 8:1 gegen den, der mit ihrer Schlagfertigkeit nicht mithalten kann. Sie haben ihre Launen, und die allein zählen. Und mit der Presse haben sie so ihre Erfahrung. Nach dreieinhalb Jahren öffentlicher Beachtung – oder besser: Beobachtung – wissen sie um das klischierte Bild, das in den Medien gezeichnet wird: Die RATTEN07 sind die gefeierte Vorzeige-Rand- und Obdachlosentheatergruppe der Republik, eine Freude für jedes sozialtherapeutische Herz, denn obdachlos ist inzwischen keiner der RATTEN mehr und mancher jetzt auch „trocken“.

Diese Beachtung genießen sie, sind geschmeichelt von den hymnischen (manchmal in politisch-korrekter Solidarhaltung weichgespülten) Kritiken. Zumeist jedoch begegnen sie der bürgerlichen Annäherung und Aneignung mit Zynismus und Vorbehalt. Nicht zu Unrecht, denn scheint nicht hinter all dem Jubel um die künstlerische Emanzipation der sogenannten Outlaws ein romantisierender Gestus durch, wenn von „Berbern“ die Rede ist? Ein Gestus, der auch „Elendsinszenierungen“ wie etwa Peter Zadeks „Wunder von Mailand“ und Andrea Breths „Nachtasyl“ bestimmt? (Im RATTEN- Jargon übrigens „Kinderscheiße“.) Ein voyeuristischer Habitus hinter all den schönen Worten?

Denn sie kennen die Kehrseite. „Auf der Straße wirste auch beachtet“, erzählt Thommes, „das sieht dann aber so aus: Du wirst angemacht, bespuckt, beschimpft.“ Die gängigste Form der Kommunikation mit Obdachlosen ist mehrmals täglich in der U-Bahn zu beobachten. Intensiv suchen die Blicke der Fahrgäste den Boden ab, wenn „schon wieder einer“ mit einschneidend-leiernder Stimme von seinem Schicksal erzählt und schnorrt. Im Wegsehen sind die Berliner U-Bahnfahgäste geübt. Bei den RATTEN jedoch kann man ungeniert hinsehen.

Man entdeckt Becketts Wladimir und Estragon, die Meister des großen Nichts und der Warterei. Freut sich über Straßenschläue und Hintersinn. Man sieht sieben wunderbar poetische Woyzecks, ohne daß „die“ Figur larmoyant verwässert würde. „Stumpfsinn, Stumpfsinn ist meine Lust“ – wer könnte diesen Blues wohl brisanter, authentischer – und zärtlicher – singen? Aber Vorsicht! Wer sich jenseits der Bühnenrampe in sicherem Abstand fühlt, wird bestraft, denn die RATTEN sind echt: Hemmungslos setzen sie sich dem Publikum auf den Schoß. Und dabei dünsten sie ihr Leben aus. Schweiß und Alkohol liegen in der Luft, manchmal verschwinden Worte in Bärten oder stolpern über Zahnlücken, und ab und an wirken ihre Bewegungen steif und unbeholfen.

Ein Affront. Eine Darbietung, die unversehens die Frage nach der „Kunst“ aufwirft. Das fängt ganz banal bei der Finanzierung an. Der Senat für Soziales verweist den vorstelligen Regisseur an den Kultursenat, „weil sie zwar den Leuten helfen, aber doch Theater spielen“. Der Kultursenat spielt den Ball zurück: „Weil sie Theater spielen, aber eigentlich den Leuten helfen.“

Für manche Theaterprofis ist diese Kunstform offensichtlich keine Kunst, sondern eine fundamentale Verunsicherung: „Wenn bei Castorf an der Volksbühne jetzt Obdachlose Theater spielen, ist mein Beruf in Frage gestellt“, beklagte sich etwa die Schauspielerin Ursula Karusseit 1993 in der Wochenpost. Und ein Mitarbeiter der Welt gruselt sich, wann immer die Sprache auf die RATTEN kommt, vor dem sozialen Impetus, dem „anderen“ Theateransatz, dem „Theater von unten“.

Vor Jahrzehnten bereits wurde spartenübergreifend versucht, den Kunstbegriff zu erweitern, doch das allgemeine Bewußtsein scheint sich nicht wesentlich gewandelt zu haben.

Anerkannt ist, so analysiert der einstige Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann (jetzt Berliner Ensemble), daß sich echte Schauspieler „kannibalisch“ der ihnen fremden Wirklichkeit der Underdogs nähern und diese Asozialenstudien in Inszenierungen künstlerisch und kommerziell zum Wohlgefallen des geneigten Publikums ausbeuten. Daß aber eine Bande Obdachloser die Bühne erobert und künstlerisch von ihrer Wirklichkeit erzählt, die in Woyzeck, Estragon und Wladimir steckt, das geht nicht an.

Es stimmt ja: Hier ist echte Eifersucht zu sehen, wenn sich der Kollege auf der Bühne mit seinen Späßen als „Rampensau“ hervortut. Und manchmal verzerrt auch der Alkoholspiegel das Spiel. Und doch! Der langjährige Regisseur der RATTEN, Roland Brus, kalkuliert diese „Pannen“ mit ein und spricht vom „Free- Jazz, der die strenge Form sprengt, der jeden einzelnen Abend einzigartig macht“. Die Freiheit, die das Austarieren zwischen „Konzept und Panne, das nahtlose Ineinanderübergehen“ bedeutet. Die Freiheit, Kunst und Alltag zu vereinen.

Frei nach Augusto Boals „Unsichtbarem Theater“ und dem „Theater der Unterdrückten“ setzen sich die RATTEN in die U- Bahn und „spielen“ Beckett, tauchen in Richterroben in die Welt des Bundesverfassungsgerichts ein und retten Kollabierende beim Ärztekongreß in der Charité. Frei nach Artauds Theaterkonzept setzen sie ihre Körper als ästhetische Bedrohung ein. Tatsächlich geht eine irritierende Rohheit (und überraschende Zartheit) von ihnen aus, eine berührende Körperlichkeit, die manchmal fast peinlich ist. Sie verhöhnt die Ästhetisierung des geschmeidigen Idealkörpers. Und: Diese Körperlichkeit ist Befreiung von den Panzern, die sich die RATTEN zum Schutz gegen die Gesetze der Straße angelegt haben. Hart und cool sein zählt dort, „sonst setzt es Tritte in den Arsch“.

Wie hart der tägliche Panzer ist, das hat Punk Thommes erst bei den RATTEN gelernt, denn „hier kann ich friedlich, nett, freundlich, nett, höflich und vertrauensvoll sein“. Wenn er draußen so auftritt, hat er schnell verspielt.

Das Vertrauen lehrt die RATTEN beispielsweise die australische Schauspielerin Anna Scheer. Mit Spielen und intensiver Körperarbeit „baue ich ihren Instinkt ab, sich permanent gegen andere schützen zu müssen“, erklärt die 31jährige. Das „Unmögliche möglich zu machen“, das sei der Weg der RATTEN.

Heute wollen sich einige der Ex- Penner professionalisieren: „Theater, das isses.“ Die Alt-RATTEN Hunni (bürgerlich Uwe Hundertmark) und Rolf Fahrenkroog-Petersen wollen auch einmal Geld damit verdienen – um „langfristig eine Familie zu gründen“, so Rolf, der gerade als Knacki in Detlef Bucks „Männerpension“ in den Kinos zu sehen ist. Von einer Hauptrolle träumt er (und von einer Zweizimmerwohnung für sich und seine Freundin), wie Hunni mag er sich nicht festlegen lassen, ob er noch lange bei den RATTEN spielen wird.

Das klingt nach „Projektziel erreicht“ und Happy-End. Aber die RATTEN07 e.V. sind, so Brus, „ausdrücklich kein Resozialisierungsprojekt“. RATTEN-Sein heißt „sich auf den Weg machen, Orte sichten, sich selbst finden und in Frage stellen, allein und gemeinsam“. Die spätere Trennung eingeschlossen. So ist nur noch Hunni von den ursprünglich sieben RATTEN dabei, die anderen leben ihr Leben, sei es mit oder ohne Job oder als Straßenartist in Südfrankreich. Diese Theaterarbeit ist ein „Versuch zu träumen“, das „Aufgehen in der Illusion“ auf Zeit – mit dem Risiko, den „Bezug zur Realität zu verlieren“, wie Anna Scheer warnt.

Mit der „Pest“ fing alles an: Der schottische Regisseur Jeremy Weller führte 1992 einige Obdachlose in seiner umstrittenen Arbeit an der Volksbühne als gröhlende Klischeehorde vor. Gegen diese Pseudoauthentizität wehrten sie sich und zogen mit Wellers Assitent Roland Brus als künftigem Regisseur sowie Anna Scheer in das nahe Scheunenviertel. Mit „Verpestet“ setzten sie in der „Mulackei“ den Anfang einer biographischen Aufarbeitung: Eigene Texte und Gedichte waren die Basis für szenische Lesungen, Inszenierungen und Performances.

Später wählten Brus und die RATTEN fremde Stoffe – Stücke, deren Inhalt ihrem Leben wahlverwandt ist: Mit Beckett, Büchner und Gorki zogen sie wieder auf die Bühne im 3. Stock der Volksbühne und zogen von da aus an viele Orte, auch ins Gefängnis. Die Inszenierungen waren anarchische Glückstreffer, dadurch, daß die RATTEN immer auch von ihrem Leben spielten, ihre Gesten und Gefühle, ihr Hinken, ihre Lebenshaltung und Taktieren in eine ganz eigene Kunstform übersetzt hatten. Für ihre Theaterarbeit erhielten die RATTEN und ihr Regisseur 1995 schließlich den mit 10.000 Mark dotierten Förderpreis für Darstellende Kunst des Landes Berlin durch die Akademie der Künste.

Damit schien das Qualitätsurteil besiegelt, anerkannte und ausgezeichnete Kunst zu machen. Eine Zeit der Zäsur, ein Übergang zur Professionalisierung? Viel Kraft hatte es alle Beteiligten gekostet, so weit zu kommen. Nun verabschiedete sich Roland Brus von der Truppe, nicht ohne vorher eine einjährige Finanzierung der RATTEN durch die Volksbühne zu sichern. Gunther Seidler, der Roland Brus als Regisseur ablöste, erlag jetzt der Versuchung, die RATTEN an ihren neuen Stoff, „Leonce und Lena“ von Büchner, als Schauspieler, also mit professionellem Anspruch von „außen“, heranzuführen.

Selbstkritisch bereut er, die Eigenheiten der Schauspieler glattgebügelt zu haben. So blitzt die wirkliche Kraft der RATTEN nur vereinzelt auf. Beispielsweise wenn Hunni, ein wahrhaft bärtig- wilder Mann, die intellektuelle Geistesverwirrung des Königs spielt.

Wenn Rolf eine vagabundenhafte Verschmitztheit an den Tag legt und vor allem, wenn sie sich alle als italienische Gigolos und Mafiosi feiern. Bei aller Hochachtung vor der schauspielerischen Leistung dieser Laien: Über weite Strecken ist diese Inszenierung nicht viel mehr als jede bodenständige Off-Inszenierung auch.

Nun verspricht Seidler, selbst Schauspieler und erfahren in der Theaterarbeit mit Obdachlosen, für die nächste Inszenierung „Freiheit“ für die Spieler. Denn die RATTEN brauchen den Free- Jazz, den sie von der Straße kennen.

Nächste Aufführung der RATTEN07: „Leonce und Lena“ von Georg Büchner im 3. Stock der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am Dienstag, dem 5.März um 20 Uhr.

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