: Der schwarze, frischgestrichene Sarkophag des Katastrophenreaktors liegt vor mir. Wir stehen in der Todeszone um Tschernobyl, mitten in der Stadt Pripjat. Seit zehn Jahren ist Pripjat eine Geisterstadt. In sowjetischen Zeiten war sie eine M
... unbewohnbar wie der Mond. Vorsichtig setze ich Fuß vor Fuß – der tiefe, weiße Schnee ist unberührt. Aber der Geigerzähler zeigt nur eins an: Nichts wie weg hier! Die ewigen Reste des radioaktiven Fallout, zweihundertmal höher als Hiroshima und Nagasaki zusammen, treiben das Meßgerät in den Alarmbereich.
Ich gehe vorbei an einer verlassenen Buchhandlung an der Lenin- Straße. Hinterm Schaufenster ruft ein Mai-Plakat die Werktätigen auf zur Demo. Ein Riesenrad in der Nähe wartet seit zehn Jahren vergeblich auf frohe Kinderjauchzer am Feiertag. Am 1. Mai 1986 fällt der Kampftag der Arbeiterklasse aus – wegen GAU und Massenevakuierung.
Der Staub hinter den verschneiten Fenster sieht harmlos aus. Aber er enthält die radioaktiven Gifte Caesium und Plutonium. Hier hilft kein Hausputz, und der Hinweis an einer Haustür unterstreicht den Wahnsinn: „Eigentum des Besitzers“ steht da in krakeligem Kyrillisch. Bankrotterklärung für die Wertediskussion: Sozialismus oder Eigentum? Es rettet uns kein höh'res Wesen und scheint' die Sonn' ohn' Unterlaß? Die internationale Verstrahlung, das atomare Feuer im Sarkophag über BlockIV hat kein irdisches Ende.
Direkt hinter dem Atomkraftwerk ist eine Bahnlinie. Genau zum Zeitpunkt der Katastrophe fuhr ein vollbesetzter Personenzug am explodierenden BlockIV und seinen tödlichen Strahlen vorbei. Nicht alle Passagiere wurden als Tschernobyl-Invaliden anerkannt: Schwarzfahrer konnten mangels Ticket ihr zukünftiges Leiden nicht beweisen.
Ein klappriger Bus bringt mich zum „Contamination Control Post“. Ich will gleich noch in das Atomkraftwerk – aber erst mal die Schutzbekleidung abgeben: „Das ist nur für den Gang durch das verstrahlte Pripjat notwendig“, werde ich aufgeklärt, „in der Fabrik ist alles sauber.“ Die Dosis ukrainischer Unbekümmertheit wird dauernd erhöht. Das hat durchaus Logik: Die wattierte Jacke mit den viel zu kurzen Ärmeln und die ausrangierte Fellmütze nach Mode der einstigen Roten Armee – Schuhe, was am nötigsten gewesen wäre, gab es gar nicht erst – kann ja auch kein so doller Schutz gewesen sein.
Sollte mir die gerade abgelegte Schutzkleidung tatsächlich giftige Nuklide vom Leib gehalten haben – jetzt sitze ich mit meinen eigenen Klamotten in demselben Bus auf denselben Polstern, an denen ich gerade eben noch meine kontaminierte Jacke gerieben hatte. Von den vielen Lenin-Büsten ist diese hier die strahlendste von allen. In der nach ihm benannten Atomfabrik ist alles beim alten geblieben. Die Blöcke I und III laufen unter Volldampf, wie sie es seit fast zwei Jahrzehnten tun. Der Sarkophag über Block IV wurde gerade frisch schwarz getüncht – er soll ja gut aussehen zur zehnjährigen Wiederkehr des größten Unfalls in der Geschichte der zivilen Atomkraft.
Block II – daran läßt PR-Mann Sergej Pawlowski keinen Zweifel – kann im Sommer nach dann rund fünfjähriger Zwangspause infolge eines Turbinenbrands wieder ans Netz gehen. „Wir haben keine Probleme“, wird mir Minister Wladimir Choloscha im eigens eingerichteten Tschernobyl-Ministerium in Kiew später immer und immer wieder auf meine Fragen wiederholen.
Im Kontrollraum von Block I. Der leitende Ingenieur raucht eine Zigarette nach der anderen. Ich sehe mich um: Die Technik und die Optik dieser Schaltzentrale erinnern in ihrer Einfachheit an jene famosen Förderbänder, die an den DDR-Grenzübergängen die Pässe von Kontrollposten zu Kontrollposten zu transportieren hatten. An einem Meßgeräteschrank wurde der Drehknopf durch einen gebrauchten Cola-Kronkorken ersetzt. High-Tech nach Art des Hauses.
In der riesigen Turbinenhalle ziehen sich zentimeterbreite Risse durch den Betonboden. Die Turbinen werden mit radioaktivem Dampf betrieben, der direkt aus den beiden aktiven Reaktoren kommt. Der Reaktor liefert den kompletten Strombedarf der Dreimillionenstadt Kiew. Ich denke an die Frage aus der „Feuerzangenbowle“: „Wat is 'ne Dampfmaschin'?“ Die Antwort suche ich auf dem Display meines piependen Geigerzählers: Sogar die deutsche Atomlobby würde bei diesen Werten wohl Skrupel kriegen.
Unvorstellbar: 7.000 Menschen arbeiten heute im Atomkraftwerk. 7.000 Menschen pendeln täglich im Dreieck zwischen der Reaktoranlage und Slawutitsch, einer nach dem GAU als Ersatz für das verstrahlte Pripjat gebauten Schlafstadt, sowie der Ortschaft Tschernobyl selbst, die dem Ganzen ihren Namen leihen mußte und rund 15 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk liegt.
Hier werden die Menschen versorgt, die immer eine Woche innerhalb der gesperrten Zone arbeiten und zwei Wochen außerhalb der 30-Kilometer-Zone Freischicht haben.
Normalbetrieb in Tschernobyl. In den Worten des Herrn Pawlowski von der Tschernobyl-PR-Stelle hört sich das so an: „Wir fahren weiter unser altes Auto und bemühen uns, keinen Unfall zu verursachen. Denken Sie an die Challenger-Raumfahrtkatastrophe der Amerikaner: Sie fliegen immer weiter damit. Das ist normal.“
Seit zwei Stunden bin ich unterwegs von Kiew nach Naroditschi. Große Schilder weisen mich auf Wichtiges hin: „Schont den Wald – Unser Wald ist die Quelle unserer Gesundheit!“ Herrlich schön, ruhig und tiefverschneit ist dieser Wald. Aber jeder Schritt zwischen die kräftigen Tannen wäre fatal. Abseits der einzigen Fahrstraße besteht Lebensgefahr: Die Wälder im Bezirk Naroditschi sind auf Jahrtausende atomar verseucht. Eine Baumschule der Mutationen.
War es das, was unsere Atomlobby meinte mit ihrem Slogan von der „sauberen Energie“: kein ästhetisch-ätzendes Waldsterben in Braun-Welk, hier strahlt noch das genetisch abartigste Zweiglein in frischem Grün. Und wie schon am Unglücksreaktor: Ich rieche nichts, ich sehe nichts, ich fühle nichts, ich schmecke nichts – ich spüre keine bekannte Ahnung von Unheil, alle Sinne bleiben dumm!
Der Bezirk Naroditschi gilt als „zweites Tschernobyl“. In direkter Nachbarschaft zum Unglücksreaktor liegen die kleine Kreisstadt und die vielen Dörfer und Siedlungen. Einfach, aber schön: kleine Holzhäuser, oft farbig angemalt und mit Schnitzereien verziert, ein Gärtchen mit Holzzaun drumherum, ein Ziehbrunnen davor – bäuerliche Idylle auf dem Land. Vier dieser Dörfer wurden noch im Unglücksjahr 1986 geräumt. Ihre Bewohner hatten keine Wahl, mußten Hab und Gut zurücklassen. Für die EinwohnerInnen von zwölf weiteren Dörfern kam der Exodus erst 1990, für nochmals drei Ortschaften kam das Umzugssignal erst im vergangenen Jahr: Endlich gab es weitere Ausweichquartiere in weniger kontaminierten Gegenden der Ukraine. Im Park der Kreisstadt Naroditschi hängen die Kirchenglocken der verlassenen Dörfer.
Wer heute noch auf verstrahltem Grund und Boden lebt, zuckt über solche Details nur die Schultern. Nur mir ist zum Heulen: Ich sitze über einer Schüssel Borschtsch. Jeder Löffel fällt mir schwer. Um mich herum emsiges Essen – die Tage sind sehr selten, an denen die Tische in Naroditschi reichlich gedeckt sind. Aber heute ist Besuch da – und Gastfreundschaft mobilisiert alles in diesem Land. Das ganze Menü: Davor gab es schon Zunge und saure Kartoffelstückchen. Auf mich warten noch gefüllte Blini und zum Nachtisch eine Milchspeise. Ein wunderbares Gastmahl, liebevoll zubereitet und mit leuchtenden Augen von den Köchinnen aufgetragen. Jeder Bissen enthält mehr Becquerel als vermutlich alles, was ich jemals gegessen habe. Selbst die Behörden zu Sowjetzeiten ließen soviel Vernunft walten, daß sie die Einstellung der Landwirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung mit unbelasteten Nahrungsmitteln anordneten.
Die Anordnung existiert noch, die Sowjetunion nicht mehr – und also hat das Schwein, dessen Fleisch wir gerade essen, vom verseuchten Boden gefressen und stammt die Nachtischmilch von der Kuh in Nachbars Garten; das Heu dort läßt unser Meßgerät später ausschlagen. Mir wird heiß und kalt, ich schleudere zwischen artigen Gastgepflogenheiten und wilder Biopanik. Aber zu Hause die Mikrowelle boykottieren ...
Rund 30.000 Menschen lebten vor dem GAU im Bezirk Naroditschi, bis heute müssen hier immer noch 17.000 Menschen ausharren. Von ehedem 7.000 EinwohnerInnen der Stadt Naroditschi sind immerhin 5.000 Menschen geblieben, darunter 2.050 Kinder. Diese Statistik zählt mir Galina Korinna auf. Früher war die 32jährige Frau mit dem lebhaften Temperament Lehrerin, heute braucht sie ihr didaktisches Geschick als stellvertretende Landrätin von Naroditschi.
Wir sind auf dem Weg zur einzig verbliebenen Hauptschule der Stadt; 220 Kinder sollen hier fürs Leben lernen. Die härteste Lektion erteilt das alltägliche Leben: Sie essen verstrahlte Lebensmittel, sie spielen auf verseuchten Wiesen und in verseuchten Wäldern. Zweimal im Jahr dürfen sie zur Erholung in Kinderheime in den südlichen Teil der Ukraine und in die ukrainischen Karpaten.
Ich lerne Kinder kennen mit Leukämie und immer wieder mit Schilddrüsenkrebs. Ich weiß, Leukämie kann man überall auf der Welt kriegen, aber kein Mediziner bestreitet, daß in den ersten vier Lebensjahren die Schilddrüse besonders empfindlich ist. Im ersten Jahrzehnt nach dem GAU haben sich diese Krankheitsfälle verhundertfacht. Besonders stark betroffen ist die Gruppe der heute Zehn- bis Vierzehnjährigen. Zum Schutz meiner Schilddrüse habe ich seit Tagen Jodtabletten geschluckt.
Im Krankenhaus von Naroditschi fehlt es an allem: keine Medikamente, fast keine funktionierende Medizintechnik – da wird die ärztliche Versorgung selbst zum Notfall. Ich denke schon wieder: Nichts wie weg hier! Und bekomme von Galina zu hören: „Meine Mutter ist hier geboren, ich bin hier geboren. Hier ist meine Heimat, und hier werde ich sterben.“
Galinas Bruder hat diesen Lebenslauf bereits vollendet: Mit 36 Jahren ist er vor zwei Jahren gestorben. Er war Ingenieur; 1986 war er in unmittelbarer Nähe des explodierten Reaktors eingesetzt.
Das Leben geht weiter. Ich sehe Aljoscha auf dem Schoß seiner Mutter sitzen. Sein rechtes Ärmchen hört mit dem Ellenbogen auf – und aus diesem Stumpf wächst kümmerlich, was eine Hand werden sollte. Jürgen Fränznick
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